Quentin Tarantino, J.J. Abrams, Todd Phillips. Drei der derzeit erfolgreichsten amerikanischen Filmemacher beziehen sich in ihren Werken überdeutlich auf die experimentierfreudigen Exploitationfilme der frühen 1970er. Die Zeit, als Hollywood dicke Löcher in der Kasse hatte, Monumentalschinken und brave Liebeskomödien nicht mehr zogen und ein für wenig Geld produziertes Road-Movie namens „Easy Rider“ die Kinowelt revolutionierte. Der junge Tarantino hing in den Grindhouses seiner Stadt buchstäblich am Tropf, wo, als Entsprechung zu den deutschen Bahnhofs- und Stadtteilkinos, Action- und Sexfilme auf dem Spielplan standen, als letzte, mit Blut und Brüsten geführte Abwehrschlacht gegen das Fernsehprogramm. Im Wochentakt präsentierten die Kinos ihrem jugendlichen Publikum freizügige Filme um selbstbewusste Frauen, explodierende Autos und wild um sich schlagende Kung-Fu-Kämpfer. Unzählige kleine Filmfirmen schossen aus dem Boden, um den darbenden Filmtheatern mit ihren durchgesessenen Stühlen günstige Ware anzudrehen, sei es aus Hongkong, Europa oder eben aus den Straßen, High Schools und Wäldern um die Ecke.
Blondinen und Raubkatzen
Mit „Bloody Mama“, „Fluchtpunkt San Franzisko“ und „Das letzte Haus links“ entstand ein unbändiges, unakademisches Kino, das die Träume und Alpträume der Jugend weiterverarbeitete und den Wahnsinn des Vietnam-Krieges reflektierte. „Es gab damals Gewalt in der Welt, Ungerechtigkeit, gleichzeitig formierte sich die Hippie-Bewegung, die sexuelle Befreiung, man engagierte sich für die Bürgerrechte. Was bitte wollten Sie da noch mit Doris Day?“, fasst es ein amerikanischer Kinobesitzer zusammen, der in seinem Hinterzimmer Plakate und Kampagnen für zahllose Exploitationwerke entwarf. Das Kino brauchte wieder Aktion, Bewegung, Reaktion. Egal ob sexuell oder materiell, also mit Körpern oder Autos. Mit neuen, direkten Horrorfilmen und frecher Sexploitation fand das Independentkino Seite an Seite mit den plötzlich erlaubten Pornokinos zu seinem Jahrmarktcharakter zurück, zur wortwörtlichen Sensationslust. Einige Jahre kamen die heißesten Filme und Trends aus dem Untergrund. Die Jahre 1973 bis 1976 wurden zum Höhepunkt der Exploitationwelle, wobei der Horror zunächst am Nachhaltigsten wirkte: Tobe Hoopers „Blutgericht in Texas“ und Rene Daalders „Massaker in Klasse 13“ sowie die kanadischen Werke „Parasiten-Mörder“ von David Cronenberg und „Jessy – Die Treppe in den Tod“ von Bob Clark galten relativ schnell als Klassiker. Etwas in Vergessenheit gerieten dagegen die starken Frauenfiguren dieser Jahre, die deutlich anders auftraten als die Heimchen am Herd und braven Ehefrauen der Nachkriegszeit. Pam Grier als rachsüchtige „Coffy - die Raubkatze“, Candice Rialson als experimentierfreudige Blondine in „Animal Women – Die animalischen Frauen“ und Cheryl „Rainbeaux“ Smith als frecher Cheerleader in „Mach mich nicht an! – The Pom Pom Girls“ irritierten und faszinierten mit ihrer ambivalenten Auftrittsweise nicht nur das männliche Publikum. Auch Lynda Carter in „Todesduell auf dem Highway“, Sondra Currie in „Sadomona – Insel der teuflischen Frauen“ und Shari Eubank in „Supervixens“ fuhren die Selbstbestimmung mit Vollgas in die muffigen Grindhouse-Kinos, immer bereit, „No“ zu sagen, sich sexuell auszuprobieren, Kerle aus dem Weg zu pusten oder sie, wie Chesty Morgan in Doris Wishmans unverschämtem Rachethriller „Ein superheißes Ding“, wortwörtlich unter ihren Brüsten zu begraben. Stolz präsentierten die Damen ihre Körper, pfiffen auf Herkunft oder Hautfarben, vertrauten auf ein freundschaftliches Miteinander, und scherten sich einen Dreck um die Vorgaben der Schönheitsindustrie oder die des Playboy.
“Death-by-video“
Bevor sich die unabhängigen Frauen so richtig ausgetobt hatten, war allerdings auch schon Schluss mit „sleazig“. Zeitgleich mit dem Aufkommen der Videokassette machte sich ab 1975 in Hollywoods Chefetagen ein „High Concept“-Kino breit, das Multiplexe, glattgebügelte Storys und künstliche Special Effects hervorbrachte, in Franchises dachte, sprich endlosen Verwertungsketten, weltweiten Vermarktungsstrategien und Einnahmen. Ein Großteil der Filmfirmen starb, wurde von enthusiastischen Workaholics wie Menahem Golan und Yoram Globus mit lebensverlängernden Maßnahmen versehen, oder gab sich der reinen Videoproduktion hin. Vor allem für die Schauspielerinnen bedeutete der Untergang der „amerikanischen Neuen Welle“ nichts Gutes: „Miss Hermosa Beach“ Candy Rialson kehrte der Schauspielerei nach einem Kurzauftritt in Clint Eastwoods „Im Auftrag des Drachen“ sowie zwei letzten Hauptrollen in den Satiren „Hollywood Boulevard“ und „Chatterbox“ den Rücken, und lebte bis zu ihrem frühen Tod zurückgezogen in Kalifornien. Rialson litt an mehreren Krankheiten und starb am 31. März 2006 an einer Leberinfektion. Ihr Tod blieb Monate unbemerkt, bis der DVD-Anbieter Code Red sie für einen Audiokommentar zu „Animal Women“ haben wollte. Wie sehr sie immer noch verehrt wurde, sei ihr leider nie bewusst gewesen, da sie nie ins Internet geguckt habe, so Rialsons Bruder Scott.
Die stets autarke Pam Grier beeinflusste gleich mehrere Generationen junger schwarzer Frauen, musste sich aber trotzdem jahrelang mit Nebenrollen begnügen und zwei schwere Erkrankungen überstehen. In „Foxy: My Life in Three Acts“ schrieb sie 2010 über den Rassismus ihrer Kindertage, das Alleinsein und das Glücksgefühl beim Schreiben und Schauspielen.
Am Schlimmsten traf es Cheryl Smith, das Mädchen vom Sunset Strip, das sie Rainbeaux nannten, und das in „The Teenies“ 1976 stolz mit echtem Babybauch aufgetreten war. Smith geriet nach ihren drei Cheerleader-Filmen, einer letzten Hauptrolle als sexuell ausgehungerter Cinderella und Nebenrollen in den zwei besten Cheech-und-Chong-Filmen und Robert Aldrichs „Die Chorknaben“ in den Drogensumpf von Los Angeles. Sie starb 2002 nach langem Kampf mit nur 45 Jahren an den Folgen einer Hepatitis. Kurz vor ihrem Tod hatte sie noch einmal Kontakt zu dem Filmjournalisten Chris Barbour. „Sie fühlte sich von der Filmindustrie und den Fans vergessen“, so Barbour, „und ich versicherte ihr, dass dem nicht so ist.“ In Briefen an den Publizisten Bill George lobte Smith 1985 das Exploitationkino der Siebziger. Es habe sich den Schauspielerinnen untergeordnet, nicht umgekehrt. Völlig baff sei sie gewesen, so Smith, als Regisseur Richard Lerner sie auch mit Babybauch wollte, dazu das Drehbuch umkrempelte und ihr sogar das Schlussbild überließ – samt Sohnemann Justin auf dem Arm.
Einem steht das Feuerwerk, das die alten Grindhouse- und Bahnhofskinos mit diesen Damen im Angesicht ihres Todes, zu Gunsten eines freien, wilden Kinos, abbrannten, noch immer vor Augen. Quentin Tarantino verbeugte sich in „Jackie Brown“ vor Grier und Rialson, und schob mit seinem „Grindhouse“-Double Feature eines der ungewöhnlichsten Projekte der letzten Jahre an, inklusive einer Hommage an Rainbeaux Smith und die selbstbestimmten Cheerleader-Mädchen Patrice Rohmer, Susie Elene, Jerii Woods, Jennifer Ashley und Lisa Reeves. Dass die Liebe zum Kino und seinen SchauspielerInnen tatsächlich ein eigenes Kino hervorbringen kann, das die eigene Geschichte nicht wegsprengen, sondern im Gegenteil mit ihr weiterleben will, ist und bleibt die gute Nachricht des Quentin Tarantino.
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