Es ist erstaunlich, wie viele Menschen Lina Wertmüller kannten. Ihre freundliche Erscheinung sorgte immer für Aufsehen. Sie lebte die Freude am Kino und seinen Möglichkeiten mit ihrem wunderbaren Lachen und ihrer Neugier bei praktisch jedem Auftritt - egal, ob man sie auf Festivals, Preisverleihungen oder auf der Straße traf. Lina Wertmüller war eine der großen Persönlichkeiten, die das europäische Kino über Jahrzehnte geprägt haben. Nicht nur mit ihren Werken, sondern mit ihrem ganzen Wesen.
Stephan Hutters Prokino-Verleih ist es zu verdanken, dass das hiesige Filmkunstpublikum ab Mitte der 1980er Jahre mit Wertmüllers wichtigsten Filmen endlich in Kontakt kam. Mit „Liebe und Anarchie“, „Sieben Schönheiten“ und „Hingerissen von einem ungewöhnlichen Schicksal im azurblauen Meer des August“. In letzterem täuscht ein armer Matrose, der zusammen mit einer reichen Fabrikbesitzerin buchstäblich in einem Boot sitzt, einen Unfall vor und steuert kurzfristig eine einsame Insel an. Ruckzuck kehren sich nun die Machtverhältnisse um. Wertmüllers besonderer Kunstgriff: Der mittellose Matrose ist eigentlich in der gesellschaftlichen Rolle der Frau, die bourgeoise Frau in der des Mannes.
Mit einem Sinn für das Groteske zeigte Wertmüller stets, wie Privatleben und Politik zusammenhängen. Sich anziehen, abstoßen, einander bedingen. Im Mekka des Filmemachens, den USA, registrierte man Wertmüllers Qualitäten schnell - und nominierte sie 1975 als erste Frau für den Regie-Oscar. Zugleich machte sich die gebürtige Römerin nichts aus Vorurteilen, sondern warf sie lieber über Bord. Ihr feministischer Western „Mein Körper für ein Pokerspiel“ mit Elsa Martinelli als Belle Starr funktionierte schon 1968 wegen des kühnen Rollentauschs - und wurde mit dem männlichen Regisseurpseudonym Nathan Wich in die ganze Welt verkauft.
Natürlich nahm Wertmüller auch das Angebot der als Action-Macher verlachten Cannon-Produzenten Menahem Golan und Yoram Globus an, um „Camorra“ zu drehen, der 1986 zu einem Triumph wurde – auch bezüglich seiner Story, in der wütende Frauen gegen die Drogengeschäfte und Machtvorgaben der Männer gewaltsam aufbegehren. Und selbstverständlich jubelte sie bei der Verleihung des David di Donatello-Ehrenpreises 2010 in der ersten Reihe begeistert Terence Hill und Bud Spencer zu, die mit ihrem akrobatischen, das Establishment verlachenden Witz jahrzehntelang von der Presse totgeschwiegen wurden.
Wertmüller, deren familiäre Wurzeln in der Schweiz lagen, erkannte, wie sehr die Leidenschaften das Leben der Menschen bestimmen – gerade auch in Italien. Sie warb für die Liebe – aber eben nicht im Sinne eines losgelösten Liebens, das andere Menschen oder Probleme nicht mehr sehen will oder kann. Und sie warb, fast im Sinne eines D.H. Lawrence, für eine längst überfällige Neuerfindung des Menschen, der ja im Grunde noch gar kein richtiger Mensch sei.
„Mein Hauptthema ist die Entwicklung des Menschen im Verhältnis zur Gesellschaft“, sagte Wertmüller 1977 der FAZ. „Die Botschaft, die ich mit meinen Werken verkünde, lautet: Die Massenzivilisation zerstört das Individuelle. Der Mensch beginnt, sich eingekapselt zu fühlen, allgemeinen Hass zu hegen, gegen die Machtverhältnisse zum Beispiel. Er vergisst dabei, dass er selbst das Zentrum ist, selbst die Formel von allem, und dass darum auch seine persönliche Entwicklung so wichtig ist.“
Am 9. Dezember ist Wertmüller im Alter von 93 Jahren verstorben. Ihr Witz, ihr Mut und auch ihr immer so freudiges Auftreten wider alle Erwartungen werden noch lange im Gedächtnis bleiben.
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