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Herzsprung
Fotos: DEFA-Stiftung/Helga Paris, Deutsche Kinemathek, Ines Johnson-Spain

Zwischen Vakuum und Aufbruch

14. November 2021

Kinoheldinnen #4: Ostdeutsche Regisseurinnen – Portrait 11/21

In ihrem Sammelband „Was wir filmten – Filme von ostdeutschen Regisseurinnen nach 1990“ (Bertz & Fischer, 2021) wagen sich die Kuratorin Betty Schiel und die künstlerische Leiterin des Internationalen Frauen* Film Fests, Dr. Maxa Zoller, an eine generationsübergreifende Film- und Kulturgeschichte der Wendezeit. Filmemacherinnen aus der ehemaligen DDR erzählen, wie sie das Ende der DDR und den Alltag nach der Wiedervereinigung mit ihren eigenen Filmen und durch das Werk von Kolleginnen erlebt haben. Ergänzt werden die sehr persönlichen Einblicke mit Interviews und Gesprächen. Was die Texte der verschiedenen Regisseurinnen so spannend macht, ist, dass sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht gegeneinander ausspielen. Vielmehr geht es um eine zeitgemäße Archivierung von Erlebtem, möglichst vielschichtig und vielstimmig. Und es geht um Orte. Öffentliche Orte, die von heute auf morgen zusammenbrechen und verschwinden. Orte auch, die plötzlich erstmals im Bewusstsein auftauchen und zu Tatorten werden. Private Orte, an denen man heimlich Filme zeigen und diskutieren kann.

Therese Koppe lobt zu Beginn Helke Misselwitz, die vor und nach der Wende in Filmen wie „Herzsprung“ alte und neue Machtverhältnisse und deren Bedeutung für ein selbstbestimmtes Leben und den Umgang mit Fremden oder Minderheiten untersuchte. Koppe konstatiert: „Die öffentliche Perspektive auf Ost-Filmemacher:innen und die Nachwendejahre scheint jedoch oft in einem einseitigen historischen DDR-Narrativ steckenzubleiben.“ Koppe dreht, quasi als Antwort auf die einseitige DDR-Berichterstattung, ihre Dokumentation „Im Stillen laut“ über ein lesbisches Künstlerinnen-Paar, das seit vier Jahrzehnten zusammenlebt – und auch in DDR-Medien praktisch nicht vorkam.

Berlin, offene Stadt



Hilde Hoffmann widmet sich Petra Tschörtners „Berlin – Prenzlauer Berg. Begegnungen zwischen dem 1. Mai und 1. Juli 1990“, wo das Publikum mit den Bildern durch die Tage und Nächte streife, „wir mäandern von nüchterner Geschäftigkeit zu verlorenem Schweifen, zwischen Sachlichkeit und poetischer Zeichenhaftigkeit, den Lichtern der Stadt und den Farben queerer Subkultur“. Tschörtner fange in ihrem „Archiv des Alltags“ Ängste ein, Zweifel und Vermutungen, dass es politisch und sozial anders werde. Ihr großer Film, der nicht von ungefähr an Rossellinis neorealistischen „Rom, offene Stadt“ erinnere, stehe bis heute allein. Nach 1992 traut sich erstaunlicherweise keine Regisseurin mehr an eine annähernd dokumentarische und trotzdem empathische Aufzeichnung des Nach-Wende-Lebens. Ähnliches berichtet Madeleine Bernstorff, die Begründerin des Weddinger Sputnik-Kinos und Aufnahmeleiterin von „Berlin, Bahnhof Friedrichstraße 1990“. Ihre Notizen, die sie während der Dreharbeiten machte, tauchen noch einmal in den „Rhythmus des Bahnhofs“, der „ein unscharfes, hyperbewegliches Bild vom Umbau einer Gesellschaft“ ist.

Der Sprachlosigkeit konkrete Geschichten entgegenzusetzen, um so zu einer möglichst genauen Einschätzung der Umbruchsituation in Deutschland zu kommen – das ist das künstlerische und damit automatisch menschliche Anliegen, dem sich auch Angelika Nguyen verpflichtet sieht. Die Regisseurin des Films „Bruderland ist abgebrannt“ schreibt geradeheraus: „Es ist mir nicht möglich, an runden Jahrestagen die ‚friedliche Revolution‘ zu feiern. Für mich sind das Trauertage. Zu viele sind verletzt und ermordet worden, und zu wenige hat es gekümmert.“ Nguyen listet in ihrem Kapitel noch einmal die frühen rassistischen Morde an den Vertragsarbeitern Amadeu Antonio Kiowa aus Angola, Jorge Gomondai aus Mosambik und Nguyễn Văn Tú aus Vietnam auf, denen großangelegte Pogrome in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen folgten.

Zusammenbruch der Wunderstädte

Grit Lemke, die Regisseurin von „Gundermann Revier“, erinnert sich an ihre Kindheit in Hoyerswerda zwischen modernen Wohnkomplexen, die anfänglich schön waren, aber dann immer höher und hässlicher wurden. Nach der Wende wird „Hoywoy“ abgewickelt, zehntausende verlassen die Stadt. Was bleibt, ist die überlebensgroße Figur des Gerhard Gundermann, die zusammen mit einer „übersprungenen Generation“, die mit einer simplen Opfer-Täter-Dichotomie beschrieben und ins Nirgendwo gestellt wird, und einer durch den Bergbau zerstörten Landschaft für das Ende einer Utopie steht.     

Das Politische im Privaten macht Cornelia Klauß sichtbar. Sie feiert das Werk der autonomen Super-8-Filmerinnen Cornelia Schleime, Christine Schlegel und Gabi Stötzer, die als „Notwehrmaßnahme“ in geheimen Zirkeln und privaten Wohnungen vorführen mussten. „Schaut man auf diese vergleichsweise billig hergestellten, ‚schmutzigen‘, unordentlichen Filme, so fällt auf, wie frei, wild und von der Lust an Bildern getrieben sie noch heute wirken“, so Klauß. „Aber sie stehen auch für die Rückseite des Sozialismus. In ihnen formulieren sich die unterbewussten und verdrängten Albdrücke und Gewalterfahrungen einer Gesellschaft, die hochgradig indoktriniert war und sich irgendwo zwischen Selbstverleugnung und Nische eingerichtet hatte.“

Durch den Westen nichts Neues



Inwieweit die Wiedervereinigung eine Rückkehr zu alten männlichen Rollenklischees bedeutet, diskutiert Kerstin Honeit. Durchaus selbstkritisch rekapituliert sie die Entstehung ihrer Videoinstallation „Junost Bang“, einer in den alten DEFA-Studios erfundenen Neusynchronisation von John Frankenheimers spätem Actionfilm „Dead Bang – Kurzer Prozess“ durch mehrere Seniorinnen eines Altenheims. Der aus heutiger Sicht weniger formelhafte denn prophetische Don-Johnson-Thriller über eine im Untergrund agierende Nazi-Killergruppe war einer der ersten US-Filme, die 1990 zeitgleich in der BRD und der DDR gestartet wurden. Auch Honeits Videoarbeit „My Castle, Your Castle“, die den Abriss des Palasts der Republik und den darauffolgenden Wiederaufbau des Berliner Schlosses vor Ort auf der Baustelle spiegelt, gräbt sich mit queeren Cowboys und Voice-Drags tief in eine völlig andere Deutung staatstragender Bauten und ihrer Geschichte.

Schließlich berichtet Ines Johnson-Spain noch einmal von ihrem Film „Becoming Black“. Davon, wie sie als farbiges Mädchen unter Weißen aufwuchs – und erzählt bekam, sie habe nur zu viel Möhrensaft getrunken. Erst Jahre später erfährt sie, dass ihr Vater aus Togo stammte. Er war als afrikanischer Student in die DDR eingeladen worden und musste diese nach der Beendigung des Studiums wieder verlassen. Es gab „eine klare staatliche Anweisung, dass die Studierenden nach Abschluss ihrer Ausbildung sofort in ihre Herkunftsländer zurückzukehren hatten. Dass sie sich verliebten, Kinder zeugten oder heirateten, war nicht vorgesehen“. „Die DDR“, bilanziert Johnson-Spain, „hat sicherlich auch den erwartbaren Beweis erbracht, dass eine Gesellschaft, die Rassismus per Gesetz ‚abschafft‘, ohne sich mit seinen Ursachen wirklich auseinandergesetzt zu haben, das Phänomen nicht automatisch beseitigt.“



Die vielfältigen Anekdoten, Beobachtungen und eigenen „biografischen Fixpunkte“ der ostdeutschen Filmregisseurinnen führen zu neuen Blickwinkeln und Einschätzungen – abseits einer leicht zu instrumentalisierenden Mainstream-Geschichtsschreibung. „Was wir filmten“ wirbt auf praktisch jeder Seite für eine Kooperation und Solidarität auf Augenhöhe. Kein Erheben über das Gefilmte, sondern ein Erheben mit den Gefilmten. So wird denn auch klar, dass der beliebte Slogan „Es war nicht alles schlecht“ groteskerweise nur noch in Bezug auf staatliche Einrichtungen oder letztlich banale Begleiterscheinungen des DDR-Alltags benutzt wird, nicht aber im Hinblick auf ein individuelles, künstlerisches und multiperspektivisches Schaffen, Leben und Erleben. Der Weitblick, mit dem die ostdeutschen Regisseurinnen auf das Leben, auf Umbrüche und Neuanfänge schauen, könnte einer Generation, um nicht zu sagen einer ganzen Gesellschaft und Arbeitswelt, die noch immer große Schwierigkeiten hat, eigene Befindlichkeiten, Erlebnisse oder gar Krisen mit einem neuen Miteinander zu vereinen, durchaus ein Vorbild sein.

Rüdiger Schmidt-Sodingen

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