Auf dem Feld verdorren die Bäume, das Kirchendach ist voller Löcher. Als es endlich regnet, stellt der Dorfpfarrer Töpfe und Teller zwischen die Kirchenbänke, beobachtet das rhythmische Tropfen – und beginnt, zu tanzen. Die Klänge „Gocce d’acqua“, zu denen Adriano Celentano als „Don Tango“ im fliegenden Talar durch die Kirche von Settala fegt, stammen von Detto Mariano, der danach noch die Ohrwürmer „I adore you“ für „Asso“ und „Step on Dynamite“ für „Der gezähmte Widerspenstige“ komponierte. Am 25. März nun, fast genau 40 Jahre nach der Erstaufführung von „Don Tango“, im Original „Qua la mano“, starb Mariano in Mailand am Coronavirus.
Auch die US-Schauspieler Mark Blum und Allen Garfield, ihre britische Kollegin Hilary Heath, der chinesische Filmregisseur Chang Kai samt Schwester und Eltern, die französische Regisseurin Sarah Maldoror und der chilenische Dichter und Journalist Luis Sepúlveda überlebten die Infektion mit dem Virus in den vergangenen Wochen nicht. Wer dann den Trostraum Kino in dieser Zeit aufsuchen wollte, stand ab Mitte März vor verschlossenen Türen. Die Kinosäle blieben dunkel, auf den sogenannten „Filmtitelanzeigern“ über dem Eingang standen allgemeine Danksagungen und berühmte Filmzitate.
„We’ll Be Back“
Relativ schnell sprangen die Autokinos in die Bresche – und boten auf flott hochgezogenen Leinwänden und LED-Screens kurzfristigen Kulturersatz. Wer einmal alte „Drive-Ins“ in den USA besucht hat, die ab Ende der 1950er vornehmlich an den Stadträndern zunächst Familien und dann Teenager mit aktuellen Filmen, aber auch den berühmt-berüchtigten „Double Features“ versorgten, weiß, dass das spartanische Autokino erstaunlicherweise einige Moden überstanden hat. Von den über 4.000 Drive-Ins, die es in den USA einmal gab, sind jedoch nur knapp zehn Prozent übrig geblieben – auch und gerade, weil die festen Filmtheater immer moderner und bequemer wurden und das „Gesehen werden“ mittlerweile bei Arthouse-Kinos und auch Multiplexen mit zum Geschäftsmodell gehört.
Blättert man durch alte US-Zeitungen der 1980er Jahre findet man bei den Kinoanzeigen auch etwas unglaublich modernes: Einige Kinobesitzer fingen damals an, ihren Namen unter das Theaterlogo zu schreiben – und empfahlen sich damit als persönlicher Ansprechpartner. Dort stand dann „Das Filmtheater von Joe Lewis, der sich schon auf Ihren Besuch freut und Ihnen diese Woche folgende Filme ausgesucht hat“, Doppelpunkt.
Was war das Kino? Was wird es sein?
Die persönliche Ansprache haben viele Kinos in den letzten zwei Monaten geübt. Wo es kein Programm gibt, muss man nach anderen Verbindungen zum Publikum suchen: Erinnerungen, Sehnsüchten, auch Bitten um Unterstützung. Schon relativ früh nach dem Lockdown war klar, dass eine vorübergehende Schließung erhebliche wirtschaftliche Probleme mit sich bringt. Einerseits laufen die Fixkosten weiter, andererseits könnte das Geschäftsmodell Kino in den Augen von Investoren und Vermietern urplötzlich auf wackligen Beinen stehen – und damit den Weg für neue Übernahmen oder gar Schließungen frei machen. Könnten Multiplex-Ketten demnächst in der Hand von Online-Konzernen landen, während die mittelständischen Innenstadtkinos zu Liebhaber-Objekten werden?
Wer die Traditionshäuser retten will, weil diese auf einzigartige Weise die Geschichte und den Ursprung des Films spiegeln und in vielen Stadtteilen, aber auch Innenstädten, die letzten Orte sind, an denen abends noch Licht brennt, muss womöglich in der direkten Nachbarschaft ansetzen. So schön und wichtig die jährlichen Prämiengelder für die Programmgestaltung sind – womöglich ist es an der Zeit, einen Gang höher zu schalten und das Kino per se, als Ort, langfristig zu bewahren.
Die Städte und Gemeinden sollten die Kinos endlich als Mitgefühl- und Geschichte(n)-Maschinen anerkennen und ganzherzig fördern. Sie könnten verbindlich die Mieten übernehmen und damit sowohl bei den Kinobetreiber*innen als auch den Vermieter*innen ein unmissverständliches Zeichen setzen. Die Kinos sind längst Treffpunkt, Diskussionsort und Museum in einem – und fungieren damit, auch und gerade abseits immer gleich aussehender Shopping-Malls, als lokaler, originärer Chronist, Zeitzeuge und Empathie-Lernort. Sie ersetzen tagtäglich Weiterbildungen, Psychotherapien und befördern, vielleicht wichtiger denn je, die individuelle Herzensbildung. Das Kino ist glücksrelevant.
Michel Piccoli
Einer der kürzlich auch gestorben ist, jedoch nicht an Corona, ist der große französische Filmschauspieler Michel Piccoli. Piccoli war ein Solitär des europäischen Kinos. Er spielte mehrmals neben Romy Schneider, in „Belle de Jour“, war Star der Anarchokomödie „Themroc“ und glänzte im fortgeschrittenen Alter in Werken wie „Ich gehe nach Hause“ und „Habemus Papam – Ein Papst büxt aus“. Bis zuletzt schien Piccoli bei seinem Spiel immer eine zweite Ebene mitzuliefern. Seine Tiefe rührte aus einer großartigen Uneindeutigkeit, der Vermutung, er könne neben dem, was er eigentlich darstellen und sprechen sollte, doch noch etwas anderes mitteilen wollen. Als Piccoli in Claude Sautets „Die Dinge des Lebens“ mit seinem Auto kopfüber auf einem Acker landet und über die zwei Lieben seines Lebens nachdenkt, während er langsam verblutet, transportiert er nur durch seinen Blick und seine aus dem Off sprechende Stimme praktisch ein ganzes Universum. Beim Autokino in Piccolis Unglückswagen konzentriert sich plötzlich unser ganzes Hoffen und Bangen und Lieben.
Piccolis Filme sind ein schönes Beispiel dafür, dass das Kino mit Rechthaberei nichts am Hut hat. Im Gegenteil. Das Kino bildet eher einen Annäherungsprozess an die Liebe. Dass es in den Lockerungsdiskussionen gemeinsam mit Theatern und Konzertsälen lange gar nicht beim Namen genannt wurde, sagt womöglich mehr über die Politik denn über seine wirkliche Bedeutung als Geburtsort der bewegten und bewegenden Bilder aus. Wer auf eine offene, tolerante, demokratische und glückliche Gesellschaft pocht, kann nicht wollen, dass deren Träume und Geschichten, Komödien und Tragödien nur noch im Wohnzimmer verhandelt werden.
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