Fast jedes Kino hatte früher ein kleines Kassenhäuschen, das vor dem Eingang oder im Foyer stand. Hier thronten auf unbequemen Hockern oder Drehstühlen und auf engstem Raum die wahren Heldinnen des Theaters. Die, die praktisch den ersten und auch wichtigsten leibhaftigen Kontakt zwischen Besuchern und Kino herstellten: die Kassiererinnen.
Unter den sogenannten „Kassenkräften“ gab es ein paar richtige Persönlichkeiten, die äußerst streng jeden Besucher musterten, dann routiniert an der Kartenrolle zogen und das Geld wechselten. „Der Nächste, bitte.“ Mitunter mussten die Kunden vor dem Kassenhäuschen warten, weil die Kassiererin gerade noch im Foyer einen Schwatz mit den Kolleg*innen vom Einlass oder von der Getränketheke hielt oder im Büro vom Theaterleiter zusammengefaltet wurde. Doch dann irgendwann kam sie. Gemächlich schritt sie mit der Geldkassette unterm Arm die Treppen hinunter, schloss in aller Ruhe von hinten oder von der Seite die kleine Tür auf, „darf ich mal…“, schloss die Tür zu, sobald beide Füße vollständig verschwunden waren, und ließ sich dann auf ihren Platz fallen.
Wer nun dachte, dass der Verkauf endlich losgeht, hatte sich geirrt. Entweder blickte sie noch mehrere Minuten auf die verschiedenfarbigen Kartenrollen oder den neuartigen Kartendrucker, rückte ihre Zeitschriften für Pausenzeiten zurecht, schlug das Reservierungsbuch auf, bat per Telefon um ein Glas Wasser oder hieb an der Kassette oder am Fensterbrett mehrere Münzrollen entzwei, deren Inhalt sie dann in Zeitlupe in die entsprechenden Kassenfächer verteilte. Dass in vielen Kassenhäuschen noch ein Rollo hochgezogen werden musste, bevor es dann endlich losging und die runde Metallscheibe in der Mitte des Fensters aus der Verankerung gerissen wurde, damit der Gast in Bückhaltung, nur wenige Zentimeter vom Gesicht der Kassiererin entfernt, endlich seinen Kartenwunsch aufsagen konnte, wurde dem bühnenreifen Auftritt der Damen nur allzu gerecht.
Eine meiner Kinoheldinnen hieß Ina Klasen. Sie war viele Jahre lang die Hauptkassiererin im Düsseldorfer Savoy-Kino, dem Flaggschiff der Goldermann-Gruppe, die 1990 an die UFA verkauft wurde. Als ich dort nach dem Abitur ein Jahr lang als Dekorateur arbeitete, bat mich Frau Klasen einmal um „so kleine ‚Ausverkauft‘-Schildchen.“ Sie zeigte auf die Scheibe des Kassenhäuschens, die nicht sehr breit war. „Sie müssen aber alle nebeneinander passen.“ Da das Savoy fünf Kinos hatte, durften die Schilder nicht groß sein, jedes höchstens acht Zentimeter breit. Ich malte also fünf Schilder mit den jeweiligen Saalnamen und dem Wort „Ausverkauft“ darunter, und versah sie mit Kettchen zum Aufhängen.
Spätestens am Samstagabend schlug dann Klasens große Stunde. Die kleinen Savoy-Schachtelkinos Linse 1 und 2 waren meist binnen weniger Minuten ausverkauft und Klasen hängte an die Nägel über der Scheibe ihre entsprechenden Schildchen. Fragten dann Gäste weiter nach Karten für diese Kinos, sagte Klasen kein Wort und klopfte mit ihrem Zeigefinger nur wortlos an den oberen Teil der Scheibe. Viele begriffen oder sahen schlicht nicht, was sie meinte. „Was denn, zwei Karten, bitte, habe ich gesagt…“ Sie klopfte wieder wortlos mit dem rotlackierten Fingernagel gegen das Glas und sah die Kunden durch ihre Brillengläser dabei herausfordernd an. Ab der zweiten Nachfrage entgegnete sie trocken: „Können Sie nicht lesen?“
Zwar durfte man sich niemals zu Klasen ins Kassenhäuschen setzen, aber ich traf sie oft auf dem Weg dorthin oder während einer kurzen Verschnaufpause an der großen Snack- und Getränketheke. Sie sagte dann irgendwas zur Dekoration, rauchte in Ruhe ein Zigarettchen, machte ein paar süffisante Bemerkungen zu den Kollegen, stolzierte dann wieder die Treppen hinunter Richtung Straße, zu ihrem Kassenhäuschen. Ein paarmal unterhielt ich mich länger mit ihr. Sie war in der Tat eine kluge, humorvolle und herzensgute Frau. Jemand, der schon einiges erlebt hatte und der wahrscheinlich mehr über das Leben wusste als ich seinerzeit auch nur ahnte.
Wenn ich am Mittwochabend, nach dem Beginn der letzten Vorstellungen, mit meiner Leiter anrückte und anfing, die neuen, auf Kapa-line aufgezogenen Kinoplakate und Aushangbilder in den Schaufenstern zu dekorieren, dann schloss sie im Kassenhäuschen immer ihre Geldkassette zu und wartete auf den Theaterleiter, der sie kurz darauf abholte und mitsamt den Tageseinnahmen nach oben ins Büro führte. Bevor sie jedoch das Rollo runterließ, winkte sie mir immer noch einmal fröhlich mit ihren kleinen „Ausverkauft“-Schildchen zu. Das Wochenende würde wieder großartig werden.
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