Man muss sich das bundesdeutsche Verleihgeschäft der 1970er und 80er Jahre als buntes Spiel ohne Grenzen vorstellen, das keine strikte Trennung zwischen Arthouse und Mainstream kannte und genug Nischen für unabhängige, trickreich vermarktete Filme aller Genres bot. Neben den großen Major-Tankern der Fox, Warner-Columbia und United International Pictures buhlten unzählige mittelständische und kleine Verleiher um Publikum und klingelten am Dispo-Montag nicht nur bei den lokalen Kinobesitzerfamilien und Programmkinos samt deren Einkaufsgemeinschaften durch, sondern selbstbewusst auch bei der dicken, strengen Tante UFA, die im Sommer, abseits der Blockbuster-Saison, auch ihre größeren Häuser für Independent-Werke oder Reprisen öffnete. Um alle Geschmäcker zufrieden zu stellen, kauften die unabhängigen Verleiher auch Filme für den deutschen Markt ein, die kurzfristig an Hits andockten oder aber so wunderbar durch alle Raster fielen, dass sie gerade deshalb das Publikum elektrisierten. Einer dieser Filmverleiher war Christian Friedel. Und er war hinsichtlich seines Programms vielleicht der angriffslustigste und vielseitigste. Seine Karriere begann 1971 im von Hark Bohm, Wim Wenders, Hans W. Geißendörfer und zehn weiteren Filmemachern gegründeten Filmverlag der Autoren, einem Eigenverleih, der sich zunächst dem jungen deutschen Autorenkino verschrieb, später jedoch, nach dem Einstieg Rudolf Augsteins, seine größten Erfolge mit einem spektakulären Output-Deal der US-Firma Orion feierte. 1985 startete der Filmverlag „Paris, Texas“ von Wim Wenders, „The Purple Rose of Cairo“ von Woody Allen und „Terminator“ eines gewissen James Cameron. Was für ein Programm!
Friedel war zu dieser Zeit jedoch schon ausgestiegen und seit mehreren Jahren Geschäftsführer des Münchner Filmwelt-Verleihs. Er hatte rechtzeitig zum Einstieg Augsteins gemeinsam mit Laurens Straub und Michael Pakleppa seine eigene Firma aufgemacht und stürzte sich nun waghalsig ins internationale Kinogeschehen, mit einer großen Liebe zu frechen, anarchischen Stoffen. Mit Verleihchef Christoph Ott und Zentraldisponent Werner Scholz brachte er das „New British Cinema“ in die deutschen Filmtheater, wilde, von den Majors für den deutschen Markt als unpassend eingestufte US-Komödien sowie außergewöhnliche Zeichentrickfilme für buchstäblich alle Altersklassen. Neben Stephen Frears‘ „Mein wunderbarer Waschsalon“ und Neil Jordans „Mona Lisa“, für die Programmkinos, hatte er Kathryn Bigelows „Near Dark – Die Nacht hat ihren Preis“ und James Frawleys „American Eiskrem“, für die Kinocenter, im Programm. Sein Verleih mit dem Katzenlogo feierte die größten Erfolge dann ausgerechnet mit drei Animationsfilmen, „Das letzte Einhorn“, „Meister Eder und sein Pumuckl“ und „Der Glücks-Bärchi-Film“, die zusammen drei Millionen Zuschauer zählten und auch in den entlegensten Dorf- und Inselkinos liefen. Mit dem Geld aus den Kinderfilmen ging Friedel aber keineswegs auf Nummer Sicher, sondern schoss lieber die subversiven Low-Budget-Filme Herbert Achternbuschs, John Carpenters „Dark Star“ und „Assault – Anschlag bei Nacht“, „Monty Python’s wunderbare Welt der Schwerkraft“, „Zeit der Wölfe“, „Dr. Detroit“ und die sowohl cineastisch wie auch geschichtlich gewichtigen Werke „Shoah“ von Claude Lanzmann und „Hotel Terminus - Zeit und Leben des Klaus Barbie“ von Marcel Ophüls in die Umlaufbahnen der westdeutschen Kinos. Friedel liebte die Gesellschaftschronisten Alan Rudolph und Ettore Scola und wurde mit dem Verleih von Filmen wie „Das Treibhaus“, „Keine Startbahn West – Eine Region wehrt sich“, „Ein Virus kennt keine Moral“ und „Der Papagei“ selber einer. Dem deutschen Unterhaltungsflachsinn mit Otto, Manta, Trabbi trotzte er mit John Landis und Joe Dante, Michael Palin, Coluche, „Dame Edna“ Barry Humphries und Lotti Huber. Er glaubte ans lustvolle Frauenkino, an Monika Treut und Pia Frankenberg, deren „Female Misbehavior“ und „Nie wieder schlafen“ 1992 und 1993 radikal die Auflösung sexueller Grenzen und Rollenvorgaben forderten. Friedels enormer 360-Grad-Blick für gesellschaftskritische, subversive Inhalte ließ sich in fast allen eingekauften Werken erkennen. Seine Filmwelt war tatsächlich eine ganze Welt. Eine bessere.
Friedel war ein Allrounder der Filmvermarktung und kreierte für seine Filme mithilfe des Grafikers Gerd Baumann stets ganz eigene Plakate und Werbesprüche. Carl Reiners herrlichen Klamauk „Der Mann mit zwei Gehirnen“ bewarb er mit „Steve Martin. Komiker. Einfach um Klassen besser.“, Chris Bernards politische Liebeskomödie „Brief an Breshnev“ mit einem Zitat George Harrisons: „Dieser Film hat mir den Glauben an Liverpool zurückgegeben“. Über den Titel von Alan Rudolphs „Choose Me – Sag ja“ schrieb er: „Was wäre die Nacht ohne Liebe.“ Und für Russ Meyers „Im tiefen Tal der Superhexen“ funkte der Amerika-Liebhaber 1980 kurzerhand den britischen Plakatmaler Tom Chantrell an, der, entgegen der bei ihm üblichen Zensur, endlich einmal große Brüste komplett ohne Balken oder überlange Haare malen durfte.
Sein gewichtigster Film ist vielleicht Jimmy T. Murakamis Zeichentrickadaption von Raymond Briggs‘ Comic „Wenn der Wind weht“, in dem ein braves Rentnerehepaar in einem idyllischen Vorort den Atomkrieg erlebt. Mit einer stoischen Ruhe hangeln sich die zwei alten Menschen Jim und Hilda vergeblich und verständnislos, bis zum unvermeidlichen Tod, durch ihr radioaktiv verseuchtes Zuhause. Tatsächlich gelang es Friedel, den mit Klängen von Roger Waters und David Bowie beschallten Film 1986 auch in den einschlägigen, ansonsten auf „Top Gun“, Disney und die Police Academy abonnierten UFA-Centern zu platzieren und so fast 500 000 Menschen zu erreichen. Noch immer trifft man Zuschauer, die sich seinerzeit mit ihren Kindern in den Film verirrten und ihn nicht vergessen haben oder konnten. „Du liebe Zeit, ja, „Wenn der Wind weht“…“
Bis 1999 brachte Friedel zusammen mit Stephan Hutters Prokino die leisen, weisen Komödien Eric Rohmers heraus, auch Léos Carax‘ kompromissloser „Die Liebenden von Pont-Neuf“ war darunter, bevor er sich mit seinem verkleinerten Dispositionsteam auf das reine „Booking and Billing“ für befreundete Filmverleiher zurückzog. Die mit der Multiplex-Ära aufgekommene Blockbuster-Fixierung verleidete ihm die Lust an neuen Experimenten und Einkäufen. Auch dass sich die amerikanische Live-Comedy nach ihren wilden „Saturday Night“- und Touchstone-Jahren mit Attacken auf die Komplexe und Träume der westlichen Welt nur noch mit Familien und Tieren beschäftigte, enttäuschte ihn. Zuletzt koordinierte der stets mit einem roten Halstuch auftretende Münchner den Einsatz von Marion Ades „Toni Erdmann“, der auf wundersame Weise Friedels Glauben an das deutsche Kino, an die Kraft der Komik und den Unsinn der Konformität zusammenfasst. Am 1. Februar, eine Woche vor dem Start der Berliner Filmfestspiele, ist Friedel überraschend in München verstorben.
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