Bis zuletzt sprach sie in deutschen Talkshows frank und frei von ihrer bekanntesten Rolle, vom Sex und von der Liebe. Die 1952 in Utrecht geborene Sylvia Kristel zählte ab 1974 zehn Jahre lang zu den wenigen weiblichen Kassenstars des europäischen Kinos. Mit Just Jaeckins „Emanuela“ wurde die 21jährige Niederländerin über Nacht zur Ikone eines völlig neuen, auf Hochglanz polierten Softsex-Kinos - und sorgte im Pariser Triomphe auf den Champs-Elysées für einen Rekord. Vom 26. Juni 1974 bis 29. Januar 1985 stand ihre „Emmanuelle“ ununterbrochen auf dem dortigen Spielplan und zog, ähnlich wie in anderen europäischen Kinos, ein sehr bürgerliches Publikum an, das um die sogenannten Pamkinos und Film-Bars mit Getränkeservice sonst einen weiten Bogen machte. In Deutschland konnte der Film nach langen Diskussionen zunächst nur gekürzt gestartet werden, wo er sich dann ohne Umschweife einen Weg in die ansonsten für Disney- und Bond-Filme reservierten großen Säle bahnte. Die im ärmlichen Thailand arrangierten Sexszenen mit ständig wechselnden Partnern jedweder Couleur und beiderlei Geschlechts stießen sowohl katholischen Filmkritikern als auch feministischen Journalistinnen auf. Nichtsdestotrotz beeinflusste der Film die Rezeption und Vermarktung erotischer Inhalte. Die verschnörkelte Titelschrift wurde zum Markenzeichen eines massenkompatiblen Erotikkinos zwischen Porno und Liebesdrama, Emanuelas Pfauenstuhl aus Rattan zum Verkaufsschlager in Möbelhäusern.
Kristel, die fünf Sprachen beherrschte, wagte nach dem großen Erfolg einiges. Nach Alain Robbe-Grillets erotischer Gangstergroteske „Das Spiel mit dem Feuer“, Walerian Borowczyks bitterem Hurendrama „La Marge - Emanuela 77“ und Claude Chabrols überraschendem Gruselthriller „Alice“ verließ sie 1980 den europäischen Kontinent Richtung USA. Mit „Airport 80 - Die Concorde“, „Die nackte Bombe“ und „Zärtlich fängt die Liebe an“ gelangen ihr drei große internationale Erfolge, bevor sie zunehmend für Teenagerkomödien gebucht wurde und mit „Lady Chatterleys Liebhaber“, „Emmanuelle 4“ und „Red Heat - Unschuld in Ketten“ allenfalls das Publikum der kurz darauf mausetoten Bahnhofskinos erreichte. Danach, die „Emmanuelle“-Plakate waren an den Champs-Elysées gerade abgehängt worden, ging es für die Tochter eines Hoteliers zum Fernsehen, wo man ihre „Emmanuelle“ weichspülte und sie zu Historienschinken und Romanverfilmungen drängte.
Zuletzt litt Sylvia Kristel an Kehlkopfkrebs und musste im Juli einen Schlaganfall erdulden. Sie starb am 17. Oktober im Alter von 60 Jahren in Amsterdam.
Der Filmclub 813 zeigt „Emanuela“ am 12.12. um 20 Uhr noch einmal in der erweiterten deutschen Kinofassung von 1978.
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