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Gewaltrausch


POLITIK-LABOR – Ein Thema, drei Schwerpunkte: Aufmacher, Interviews, Europa-Artikel, Glosse und Lokaltexte aus Köln, Wuppertal und dem Ruhrgebiet

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Composing: Robert Michalak
 

Gewaltrausch / Die friedliche Gesellschaft

Intro (Link zur Langfassung)

Recht und Ordnung werden den Menschen wichtiger, legt das Ergebnis der Europa-Wahl nahe – entsprechend verbucht die politische Rechte große Zugewinne, verlieren Positionen, die ökologische und soziale Herausforderungen adressieren. Ist das überraschend? Ängste vor „Überfremdung“, vor rechter Gewalt, linker Gewalt, Reichsbürgern und nicht zuletzt islamistischem Terror prägen Debatten seit Jahrzehnten. Neben politisch motivierter Gewalt weisen Statistiken auch einen Zuwachs an familiärer und partnerschaftlicher Gewalt aus, jugendliche „Messerstecher“ sind in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Liegen die Nerven der Gesellschaft blanker als zuvor? Schlagen die großen Krisen verstärkt ins gesellschaftliche Klein-Klein durch? Kaum Zufall dürfte es sein, dass damit ein True-Crime-Boom einhergeht. Regiert die Angst vor Menschen?

Gewaltrausch / Die friedliche Gesellschaft

Teil 1: Gewalt auf der Straße

Eine Stammtisch-Historie gesellschaftlicher Gewalt: Früher kloppten fremde Kerle einander Barhocker übers Kreuz, gaben später einander am Tresen trotzdem ein Bier aus. Mittlerweile filmen Umstehende Messerstechereien und stellen die Videos ins Netz – statt dass sie eingeschritten wären oder Hilfe alarmiert hätten. Wie und warum verändert sich Gewalt? Die (vermeintliche) Zunahme von Straßengewalt wird vielfach mit Migration in Verbindung gebracht. Nicht zuletzt scheinen auch Delikte gegenüber Einsatzkräften und Politikern zuzunehmen. Gibt es Klarheit zwischen Gefühl, Vorurteil und Statistik? Warum bemühen Verantwortliche nicht einfach das Strafrecht, um die Handlungsmacht des Staates zu betonen – auch gegenüber ausländischen Straftätern? Warum werden therapeutische, begleitende, vorbeugende Maßnahmen weitgehend vernachlässigt, wenn nicht verschwiegen?

Gewaltrausch / Die friedliche Gesellschaft

Teil 2: Über wahre Gewalt

Crime sells. Für die Verbrecherjagd per Fernseher begeistern sich hierzulande mehrere Generationen TV-Publikum. Unzählige Podcasts und Streaming-Serien dokumentieren und kommentieren vergangene oder gegenwärtige Verbrechen. Viele dieser Formate seien voyeuristisch, lautet manche Kritik, rückten auffällig oft weibliche Opfer in den Fokus und bestärkten damit problematische Rollenbilder. Die Formate trügen mitunter zur Aufklärung bei, lautet manche Verteidigung. Das Publikum besteht zum Großteil aus Frauen. Gewalt ist eine Grenzerfahrung, die kein Leben unberührt lässt. Das Interesse daran ist darum grundsätzlich nicht überraschend. Sind hingegen die medialen Strategien aufschlussreich, die nichtfiktionaler Gewalt nachgehen, Details explizieren, von denen man eigentlich verschont bleiben will? Was hat die (echte oder vermeintliche) Zunahme von Gewalt mit dem steigenden Interesse an echter Gewalt zu tun?

Gewaltrausch / Die friedliche Gesellschaft

Teil 3: Gewalt in vier Wänden

Coronapandemie, Preisschocks, wachsende Existenzangst sind Erklärungen dafür, warum die Nerven bei vielen Menschen zunehmend blank liegen. Damit auch, warum sich mehr Menschen nicht mehr „im Griff haben“ und die Statistiken von einem auffallenden Anstieg familiärer und partnerschaftlicher Gewalt berichten. Gegenmaßnahmen und Hilfsangebote stehen nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung: Frauenhäuser, die es betroffenen Frauen (und ihren Kindern!) ermöglichen, Distanz zu schaffen. Pädagogische Fachkräfte (Kindergarten, Schule …), die für auffälliges Verhalten sensibilisiert sind. Therapieplätze für Opfer und Täter. Wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen, die dabei helfen, dass Betroffene nicht aufgrund materieller Abhängigkeit bei gewalttätigen Partnern bleiben. Damit stehen die politischen Kräfte, die Sicherheit zu ihrem Markenkern erklären, eben keineswegs für mehr Sicherheit.

Gewaltrausch / Die friedliche Gesellschaft

Teil 4: Europa gestalten – Vorbild Spanien

In Spanien erhalten Opfer häuslicher Gewalt seit 2009 zusätzlichen Schutz durch elektronische Fußfesseln, mittels derer die Aufenthaltsorte der Täter bestimmt werden. Nähert sich ein Täter dem Opfer erneut, erhalten sowohl die Polizei als auch das Opfer eine Warnung. Mittlerweile werden rund 5.000 Frauen mit dieser Maßnahme geschützt. In einem Fünftel der Fälle häuslicher Gewalt sind die Opfer männlich. Auch in Deutschland werden neue Maßnahmen gegen partnerschaftliche Gewalt diskutiert. Die Einführung einer elektronischen Fußfessel scheitert insbesondere am Datenschutz. Aber darf der datenrechtliche Schutz eines Täters wirklich über dem Opferschutz stehen? Frankreich und die Schweiz haben das spanische Konzept im Jahr 2020 übernommen.

Gewaltrausch / Die friedliche Gesellschaft

Teil 5: Glosse – Gewalt in den Medien: Ventil und Angstkatalysator

Die Bombe muss ganz in der Nähe sein. Hinter diesem Kistenstapel, in dem kleinen, staubigen Hinterhof. Da höre ich Schüsse hinter mir. Ich drehe mich um. Einer der Terroristen fällt leblos aus der Tür, durch die er sich rausgeschlichen hatte, um mir hinterrücks in den Kopf zu schießen. „Verdammte Scheiße!“, brülle ich in mein Headset, während ich die Blutspritzer hinter meiner Spielfigur betrachte. Meine Freundin, die gerade unser Arbeits- bzw. mein Gaming-Zimmer betritt, fragt mich, ob es nicht wenigstens ein Computerspiel gäbe, das ohne „diese ganze Gewalt immer“ auskäme. Die Diskussion hatten wir schon tausendmal. Ob ich davon nicht aggressiv würde. Irgendwann würde ich Amok laufen. Ich ignoriere ihren Kommentar und konzentriere mich wieder auf den Bildschirm, während sie sich eine Ausgabe von Stern Crime schnappt und wieder im Wohnzimmer verschwindet. Titelstory: „Die Amazone – Alle sollen sterben. Alle, die sie je geliebt hat“.

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