Die Kinofilme der 1960er Jahre hatten eine unübersehbare Gemeinsamkeit mit denen in unserer heutigen Zeit: Man setzte auf Filmserien und -reihen, die beim Publikum bereits erfolgreich etabliert worden waren und die deswegen für die Kinokassen überschaubare Risiken darstellten. Das ist heute ja nicht anders. Lieber produziert man den dritten Teil von „Hangover“ oder „Toy Story“, den siebten „Planet der Affen“-Film oder splittet den siebten Harry-Potter-Roman und den vierten Twilight-Roman für die Kinoadaption in zwei Teile auf, um doppelt von der verlässlichen Fanbase zu profitieren. Ein großer Unterschied zwischen 2011 und den 60er Jahren besteht allerdings darin, dass vor rund 50 Jahren das europäische Kino den Filmen aus Hollywood noch Paroli bieten konnte. Viele der erfolgreichsten Filmreihen jener Tage waren europäische Gemeinschaftsproduktionen, und die meisten davon entstanden auch mit deutscher Beteiligung. Die Rialto-Film hatte unter der Ägide von Horst Wendlandt die überaus erfolgreichen Edgar-Wallace-Adaptionen und die gleichfalls zu Kassenknüllern avancierten Karl-May-Verfilmungen aus der Taufe gehoben. Einige Jahre später versuchte man, dieses Erfolgsrezept mit weiteren seriellen Produktionen zu kopieren. „Dr. Fu Man Chu“ und „Kommissar X“ gingen in Serie, aber mit am kassenträchtigsten sollten die Verfilmungen der Bastei-Lübbe-Groschenromane um „Jerry Cotton“, den amerikanischen FBI-Agenten werden.
1965 entstand mit „Schüsse aus dem Geigenkasten“ der erste der „Jerry Cotton“-Filme, für den man den US-Amerikaner George Nader für die Titelrolle gewinnen konnte. Sieben weitere Filme sollten in gerade mal vier Jahren folgen, ein immenser Output. Gedreht wurden die sehr freien Adaptionen zunächst in Schwarz-Weiß, ab Film 5, „Der Mörderclub von Brooklyn“, dann in den grellen Farben der Swinging Sixties. Auch wenn die Filme in den USA verortet waren, verzichtete man weitgehend auf den Dreh an Originalschauplätzen und stellte New York und Los Angeles in Hamburg, Hannover oder Berlin nach. Nur für kurze Rückprojektionseinspielungen zog man mitunter eine Fahrt vorbei an den Wolkenkratzern der US-Metropolen heran. Dieser leicht trashige Ansatz hat sicherlich auch mit dazu beigetragen, dass die Jerry-Cotton-Filme auch heute noch ihre treuen Fans haben und dass sich der Erfolgsproduzent Christian Becker 2010 dazu entschloss, dem FBI-Agenten im Kino eine Neuauflage mit Christian Tramitz und Christian Ulmen zu gönnen.
„Die Jerry-Cotton-Filme: Als Jerry Cotton nach Deutschland kam“ ist ein Filmsachbuch, das sich diesem popkulturellen Phänomen aus den unterschiedlichsten Perspektiven annähert. Die Herausgeber Joachim Kramp und Gerd Naumann haben unterschiedliche Autoren verschiedene Aspekte in kürzeren Texten beleuchten lassen. Dazu zählen beispielsweise ein Beitrag zu der kultigen Filmmusik von Peter Thomas (der auch ein Vorwort zum Buch beisteuerte), ein Erlebnisbericht von den damaligen Dreharbeiten in Hamburg, ein Abriss über den bundesdeutschen Kriminalfilm, ein Artikel über das amerikanische FBI oder einer über den Trend, Groschenromanhelden auf die große Leinwand zu bringen. Durch die verschiedenen Autoren zerfasert das mitunter ein wenig, zumal es zu einigen unnötigen Wiederholungen kommt. Aber dieses Manko wird ausgeglichen durch eine Vielzahl interessanter Interviews, u.a. ein sehr seltenes mit dem Cotton-Darsteller George Nader, aber auch mit Beteiligten hinter den Kulissen wie dem Kameramann Franz Xaver Lederle oder dem Produzenten der Neuauflage, Christian Becker. Abgerundet wird das reichhaltig bebilderte Kompendium (leider sparte man mitunter etwas an Bildunterschriften) von einem umfangreichen Anhang, in dem sich bio- und filmografische Informationen zu den Regisseuren und den wichtigsten Darstellern finden sowie jeder der neun Cotton-Filme mit ausführlichen produktionstechnischen Angaben, einer Inhaltszusammenfassung und Zitaten aus zeitgenössischen Filmkritiken gewürdigt wird.
Filmbuch: „Die Jerry-Cotton-Filme: Als Jerry Cotton nach Deutschland kam“ | herausgegeben von Joachim Kramp und Gerd Naumann | ibidem-Verlag Stuttgart 2011 | ISBN 978-3-8382-0213-6
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