Tim Mrosek war von 2010 bis 2015 künstlerischer Leiter des Theaterlabels c.t.201. Er ist Dramaturg an der studiobühneköln und arbeitet darüber hinaus als Dozent und freier Regisseur.
Es fällt nicht schwer, Shakespeare aus heutiger Sicht Rassismus, Antisemitismus und Antifeminismus vorzuwerfen. Für eine gute Tragödie oder Komödie, ob sie nun „Othello“, „Der Kaufmann von Venedig“ oder „Der Widerspenstigen Zähmung“ heißt, war sich der Elisabethaner für nichts zu schade. Doch der kritische historische Blick auf Kolonialismus, Holocaust und Patriarchat haben die Sicht auf diese Stücke verändert – mit allen Problemen, die das mit sich bringt.
Tim Mrosek war von 2010 bis 2015 künstlerischer Leiter des Theaterlabels c.t.201. Er ist Dramaturg an der studiobühneköln und arbeitet darüber hinaus als Dozent und freier Regisseur.
Wenn Regisseur Tim Mrosek und sein Team sich Shakespeares Komödie „Der Widerspenstigen Zähmung“ um die patriarchalische Zurichtung Katharinas durch Petruchio vornehmen, steht das in einer langen kritischen Tradition. Sie begann 1897 mit G.B. Shaws berühmten Diktum „Kein Mann von einigem Anstand kann es in der Gesellschaft einer Frau bis zu Ende ansehen…“. Schon deshalb bietet „Die Zähmung“, wie der Abend verkürzt titelt, Shakespeare nur als Intro mit Brautwerbung. Der Witz wird aus einer schlichten Crossgender-Besetzung geschlagen. Jana Jungbluth, Carmen Konopka und Lucia Schulz geben mit XXL-Goldkettchen, Bomberjacke und Sackkratzen den Machismo von Schwiegersöhnen und Vater. Asim Odobašić im bodenlangen Kleid mit Schleife im Haar versucht als Katharina, sich der Zwangsheirat zu widersetzen, kassiert dafür aber nur Ohrfeigen.
Nach 10 Minuten ist es mit der elisabethanischen Herrlichkeit vorbei und das Quartett steht in roten Overalls auf vier rechteckigen schwarzen Kästen, die wie die Grabmäler weiblicher Opfer aussehen (Bühnenbild: Jasper Diekamp). Die vier Gestalten haben verzogene Schultern, kratzen sich am Hintern, näseln kräftig und erörtern sarkastisch die kapitalistischen Verwertungsmöglichkeiten auf dem Markt der binären Geschlechterordnung: Es geht um Pro und Contra der purity balls, auf denen 12- bis 17-jährige Mädchen ihren Vätern versprechen, jungfräulich in die Ehe zu gehen. Man beschäftigt sich mit dem Phänomen der Incels, also der unfreiwillig zölibatär lebenden jungen Männer, hinter deren häufigen Amokläufen sich oft die Sehnsucht nach einem umfassenden Femizid verbirgt. Oder das Quartett diskutiert die Geschäftsmöglichkeiten von Pick-up-Workshops, also Anmachkursen für Männer.
Die Viererbande verkörpert all das, was derzeit im öffentlichen Diskurs nicht angesagt ist, aber unbewusst oder in gesellschaftlichen Nischen herumwest. Das Programmheft bemüht dafür C.G. Jungs Theorie des psychischen Schattens, der die „‚negativen‘, sozial unerwünschten, und daher unterdrückten Züge der Persönlichkeit“ enthalte. Das mephistophelische Quadrupel wäre demnach die Terrorzelle in unserem eigenen psychischen Guantanamo.
Mit ihrer Hilfe stellt der Abend allerdings auch die Systemfrage: Welche Verwertungsmöglichkeit ergeben sich aus der Überführung der paulinischen Geschlechterordnung in den neoliberalen Kapitalismus? Und: Sind patriarchalische und kapitalistische Strukturen sogar bereits zu intrinsischen „Schatten“ unserer Persönlichkeiten geworden? Tim Mrosek und sein Team bedienen sich dabei wirkungsvoll der Mittel des schwarzen Humors und stellen so dann doch wieder die Verbindung zu Shakespeare her.
Die Zähmung | R: Tim Mrosek | weitere Termine im Frühjahr 2022 | Orangerie Theater | 0221 952 27 08
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