Melancholie durchweht den Raum, Videos der prosperierenden Autoindustrie flimmern über den sich drehenden Bühnenkubus. Doch auf seinen drei Spielflächen herrscht schräge Tristesse. Presspappenwände, Sofa und Kühlschrank unter Neonröhren – nicht gerade standesgemäß für Familie Krause und ihr mittelständisches Unternehmen. Vater Egon und Mutter Annemarie sehen aus wie die trashig-millionenschweren Geissens, Tochter Martha im Babydoll ist überdreht oder deprimiert, die andere Tochter Helene erfolglose Künstlerin mit Marina-Abramovic-Touch.
Ewald Palmetshofers hat Gerhart Hauptmanns Erstling „Vor Sonnenaufgang“ von 1889 in die Gegenwart geholt: Aus Bauern ist Mittelstand geworden, zu Alkoholismus und Übergriffigkeit ist die Depression hinzu gekommen. In Bonn pusht Regisseur Sascha Hawemann das Stück ins Groteske. Die Figuren fallen von einem Gefühlsextrem ins andere, als ob sie von einem spätkapitalistischen Borderline-Syndrom geschüttelt würden. Sie sind Marionetten eines Gesellschaftssystems, aus dem es kein Entkommen ohne Totalverlust gibt. Zum vermeintlichen Crash kommt es, wenn Marthas Mann Thomas, der aus Karrieregründen AfD-Mitglied ist, Besuch von seinem alten Studentenkumpel Andreas, einem altlinken Journalisten, bekommt. Doch auch dieser Streit ist kaum mehr als ein ideologisches Rattenrennen. Zweieinhalb Stunden Vivisektion – der entlarvende Blick der Regie ist kalt und vernichtet jede Empathie. Das Mitgefühl für die Figuren stirbt im Zuschauer allmählich ab. Was bleibt, ist Distanz – und ein wenig Melancholie, doch die ist bekanntlich selbst ein Produkt des Kapitalismus.
„Vor Sonnenaufgang“ | R: Sascha Hawemann | 17., 24.11. 20 Uhr, 18.11. 15 Uhr, 25.11. 18 Uhr | Theater Bonn | 0228 77 80 08
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