„Einmal wird dieser schreckliche Krieg doch vorbeigehen, einmal werden wir doch wieder Menschen und nicht nur Juden sein!“ Dies schreibt Anne Frank am 11. April 1944 in ihr Tagebuch, im Hinterhaus-Versteck in Amsterdam. Für die meisten interessierten Menschen steht das weltberühmt gewordene Tagebuch für die persönliche Dimension hinter dem Buch, das Sich-verstecken-Müssen eines Mädchens vor den deutschen NS-Besetzern, und die politische Dimension der Judenverfolgung. Das reicht für den Museumsbesuch – aber reicht es?
Die noch bis zum 1. Juni im Erholungshaus in Leverkusen zu sehende Wanderausstellung „Deine Anne. Ein Mädchen schreibt Geschichte“ bietet neben dem historischen und biografischen Aufriss Anknüpfungspunkte ans Heute. Fragen zu Identität, Gruppenzugehörigkeit und Diskriminierung werden auf großen Schautafeln erörtert und geschickt in Beziehung gesetzt zu ausgewählten Zitaten aus dem Tagebuch. Insbesondere das Kapitel „Identitäten“ ist hier wesentlich, zeigt es doch, aus wie vielen Facetten ein Mensch sich fortwährend entwickelt, und dass die Reduzierung auf eine Gruppenzuschreibung („Jüdin“, „Migrant“ usw.) erstens Ausgrenzung erleichtert und zweitens einem Menschen, einer Persönlichkeit nie gerecht wird.
Die grafische Oper „Das Tagebuch der Anne Frank“ von Grigori Frid, ein Gastspiel der Staatsoper Hamburg, wird am gestrigen Sonntag im selben Haus beim stARTfestival gezeigt. In der Inszenierung von David Bösch spielt, erzählt und singt die britische Sopranistin Olivia Warburton Anne Franks Geschichte, der Text besteht aus Original-Auszügen. Das Bühnenbild (Patrick Bannwart) ist in Form einer Klappkarte gestaltet, die die Stationen aus Anne Franks Leben erfahrbar macht. Ein Bett, eine Wand, ein Fenster zu hoch zum Rein- und leider auch Rausgucken, eine Topfpflanze, die für die äußerliche Ereignislosigkeit dieser Zeit im Versteck steht, Gift für eine Heranwachsende voller Lebenslust und -neugier. Wieder und wieder besprüht Anne sie, jedes Mal ein kleines bisschen resignierter.
Der Reichtum dieser Persönlichkeit, ausgedrückt in klarer, kunstvoller Sprache, fließt in das Tagebuch. Auf der rechten Bühnenseite: ein Schreibtisch, eine Lampe, Stuhl, Stift, das Buch. Während auf der Wand im Hintergrund Projektionen sehr effektvoll die geschichtliche Verortung von Besatzung, Angst und schließlicher Deportation mit Original-Filmaufnahmen und Symbolen ablaufen lassen, schreibt Anne Frank, was es bedeutet, ein heranwachsendes Mädchen zwischen Lebenslust und Depression, zwischen Ambition und Anpassung zu sein, schreibt über das Schreiben, was es ihr bedeutet, und was ihr ein Leben in Freiheit bedeuten würde.
Die Sopranistin Olivia Warburton singt diese Rolle nicht nur überragend, auch ihre schauspielerische Leistung, Anne Frank in ihren unterschiedlichen Entwicklungsstadien und Stimmungen zu zeigen, beeindruckt. Das ebenfalls vorzügliche Orchester untermalt diese Stimmungen mit Frids Partitur, die an Filmmusik erinnert. Am Ende, nach dem Verrat und der anschließenden Deportation nach Auschwitz, setzt Warburton eine kleine Puppe, die Annes Vater Otto Frank darstellt, vor Annes ausgeleuchtetes, ikonisches Porträtfoto und drückt ihm das Tagebuch in die Hände. Otto Frank war der einzige Überlebende der Familie; die Publikation des Tagebuchs verdankt sich seinem Einsatz. Als Olivia Warburton die Perücke abnimmt und sich vor dem Menschen Anne Frank verbeugt, ist rechts daneben eine letzte Projektion zu sehen: „Vergesst – mich – nicht“.
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