Ödön von Horváths in München angesiedelte Erzählung über die Idee von Moral und ihrem praktischen Auswuchs ins Gegenteil enthielt im Erscheinungsjahr 1930 die Beifügung „Ein erbaulicher Roman in drei Teilen“. Erbauung war in der einsturzgefährdeten jungen Weimarer Republik aufgrund der Kriegsniederlage, permanenter politischer Umbrüche und wirtschaftlicher Krisen ein willkommenes Gefühl. Die Menschen eines Staates, der noch zwei Jahrzehnte zuvor zu den wohlhabendsten Ländern Europas gehörte, hungerten und dürsteten nach ihrer verlorenen Identität als Sieger.
Im Buch schildert Horvárth unter anderem die Schicksale des Käsehändlers Portschinger, der vom Automobilverkäufer Alfons Kobler mit einem verkehrsuntüchtigen Wagen über den Tisch gezogen wird, und die Geschichte der arbeitslosen Näherin Anna, die ein Verhältnis mit dem Geschäftemacher hat und in die Prostitution abdriftet. Sebastian Kreyers Adaption als Kammerspiel am Theater der Keller setzt neun Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein. Lebenskünstler bzw. Ganove Kobler hat es zu bescheidenem Wohlstand gebracht und lädt in Filzpantoffeln zur nostalgischen Dia-Zeitreise in sein Refugium, das mit Tütenlampen, Cocktailsesseln und Hirschgeweih ausstaffiert ist. Seine Gäste: die einst Verführten und ihre Rachegelüste.
Das Ensemble um Daniel Breitfelder (Anna), Marc Fischer (Kobler) und Sebastian Kreyer (Portschinger) pendelt von der Komödie zur Tragödie und von dort aus ins schwarze Loch eines ironisch-absurden Universums, das alle Mutmaßungen über den Sinn des Seins ins Nichts verbannt. Mit überzeichneten Figuren zwischen Hysterie, Selbstgefälligkeit und Verwirrtheit wirft die Inszenierung dem Publikum das Scheitern der Ethik wie Süßigkeiten oder Blumengebinde im Rosenmontagszug zu. Die trotz des ernsten Hintergrunds boulevardesk komponierte Bühnenfassung lässt bald vergessen, dass ihr Original vom Autor des Pädagogikklassikers „Jugend ohne Gott“ stammt. Eine gut gefüllte Truhe Kalauer (u.a. der geschätzte „Fick-, Fick-Fick-tualienmarkt“) erweisen sich als verlässliche Volltreffer im bis auf den letzten Platz besetzten Saal.
Ein bewusst gewähltes Stilmittel, um der Gesellschaft den spießbürgerlichen Spiegel in der Wohnung des Weltbürgers Kobler vorzuhalten, der seinen Intellekt mehrfach mit dem Besuch der internationalen Leistungsschau in Barcelona von 1929 hervorhebt? Unabhängig davon agiert das Trio schauspielerisch gestenreich bis fabulös. Der vermeintliche Widerspruch zwischen Monolog/Dialog und Körpersprache macht den Reiz der 90-minütigen Inszenierung aus, die sich, beinahe weise, während eines schmerzhaften Akts des Denkens ernsthaft am Kopf verletzt. „Der ewige Spiesser“ bereitet irritierendes Vergnügen und pocht auf Nachhaltigkeit in seiner menschlichen Beschränktheit. Die Zukunft jeder Gegenwart lauert stets sprungbereit im Egoisten, der nicht Stadt, Land, Kontinent, sondern lediglich sich selbst zu retten hat.
Der ewige Spiesser oder: Ich bin eigentlich ganz anders, ich komme nur so selten dazu | 9., 10., 11.4. 20 Uhr | Theater der Keller | 0221 31 80 59
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