Die Protagonistin der neuen Koproduktion zwischen dem Theater der Keller und der Schauspielschule der Keller ist ein Konjunktiv. Anne ist Vermutung, eine Eventualität, vielleicht reine Illusion. Martin Schulze inszeniert Martin Crimps 17 Szenenvorlagen „Angriffe auf Anne oder: Versuche über ein Leben“ als 90-minütige Suche nach Ergänzungen. Anne, Anny, Anya oder wahlweise auch Annoushka erscheint dabei als verlassene/verlassende Geliebte, Terroristin, Kriegsopfer, Künstlerin, Model, Märtyrerin, Weltreisende, Erlöserin, Baum, Grashalm, Selbstmörderin und freiheitsversprechende, opulent umworbene Automarke – bleibt aber immer Geist. Spuren zu ihr führen über Aussagen vermeintlicher Angehöriger, Freund:innen, Kolleg:innen und Ankläger:innen.
Unter steter Beobachtung einer überdimensionalen anonymen Gesichtscollage in Videoform spielt das neunköpfige Ensemble auf einer gleißend-weißen Bühne Variationen von Schuld, Unschuld und Sehnsucht. An was, wovon oder wonach bleibt schiere Spekulation. Einen Hinweis gibt Dramatiker Crimp, der sein erstmals 1997 aufgeführtes Werk als Grundidee des Theaters versteht: sich selbst im Anderen zu finden. Diese Saat geht in der Adaption am Theater der Keller vortrefflich auf, sieht sich das Publikum doch damit konfrontiert, permanente Mutmaßungen anzustellen, die unvermeidbar Pforten zur eigenen Biografie aufstoßen. Lässt man dies geschehen, schleichen sich Erinnerungen und Vorahnungen in die Wahrnehmung ein. Die Schauspielschüler:innen erweisen sich als mitreißende Macht, die nicht nur auf der Bühne interagiert, sondern scheinbar auch das Geschehen auf den Rängen beobachtet. Mit berauschenden Chören und einem steten Wechsel zwischen Homogenität und plötzlichen Soli plädieren die Darsteller:innen für die Fortsetzung von Lebens(ver)suchen in einer lebensfeindlichen Welt. Die „Angriffe auf Anne“ hinterlassen unstillbare Wunden. Ein Porträt der Gegenwart, die sich heilen muss oder ihren Verletzungen erliegt.
Angriffe auf Anne | 19., 20.11., 4., 5.12., 5.1. | Theater der Keller | www.theater-der-keller.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Schussbereite Romantik
„Der Reichsbürger“ in der Kölner Innenstadt – Auftritt 01/25
Die Existenzkrise der Kunst
„Do not touch“ am TdK
Fluch der Stille
„Ruhestörung“ am TdK – Theater am Rhein 12/24
Bis der Himmel fällt
Franz Kafkas „Der Bau“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 09/24
Der Witz und das Unheimliche
Franz Kafkas „Der Bau“ am Theater der Keller – Prolog 08/24
Schöpfung ohne Schöpfer
Max Fischs Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 05/24
„Wir wissen nicht viel über das Universum“
Ronny Miersch inszeniert „Der Mensch erscheint im Holozän“ am TdK – Premiere 04/24
Einstürzende Bergwelten
„Monte Rosa“ am Theater der Keller – Prolog 02/24
Schleudergang der Pubertät
„Frühlings Erwachen: Baby, I‘m burning“ am Theater der Keller – Auftritt 11/23
Komik der Apokalypse
„Die Matrix“ im Theater der Keller – Theater am Rhein 10/23
Sonnenstürme der Kellerkinder
1. Ausbildungsjahr der Rheinkompanie – Theater am Rhein 08/23
„Die starke Kraft der Träume anzapfen“
Intendant Heinz Simon Keller über „Die Matrix“ am Theater der Keller – Premiere 08/23
Klamauk und Trauer
„Die Brüder Löwenherz“ in Bonn – Theater am Rhein 01/25
Ein Bild von einem Mann
„Nachtland“ am Theater Tiefrot – Theater am Rhein 12/24
Im Land der Täter
„Fremd“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 12/24
Freude und Bedrückung
35. Vergabe der Kölner Tanz- und Theaterpreise in der SK Stiftung Kultur – Bühne 12/24
Das Mensch
„Are you human“ am TiB – Theater am Rhein 12/24
Vererbte Traumata
Stück über das Thiaroye-Massaker am Schauspiel Köln – Prolog 12/24
„Andere Realitäten schaffen“
Dramaturg Tim Mrosek über „Kaputt“ am Comedia Theater – Premiere 12/24
Lang lebe das Nichts
„Der König stirbt“ am Schauspiel Köln – Auftritt 12/24
Tanzen gegen Rassentrennung
„Hairspray“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 11/24
Selbsterwählte Höllen
„Posthuman Condition“ am FWT – Theater am Rhein 11/24
„Die Hoffnung muss hart erkämpft werden“
Regisseur Sefa Küskü über „In Liebe“ am Orangerie Theater – Premiere 11/24