choices: Frau Niggehoff, Frau Khamis, in der Ankündigung zur Uraufführung Ihres Stücks „Trauer//Fall“ heißt es: „Der Mensch vergießt im Laufe seines Lebens circa fünf Millionen Tränen.“ Wann haben Sie zuletzt geweint und warum?
Judith Niggehoff (JN): Gestern, weil ich von einer Nachricht aus der Familie berührt war. Danach habe ich weiter geweint, als ich „Love is blind“, ein Trash-TV-Format, gesehen habe.
Dana Khamis (DK): Ich höre jeden Morgen den Podcast „The Intelligence from The Economist“. Heute ging es darin um Gaza. Die politische Weltlage nimmt mich sehr mit.
Sie wollen sich Trauer, Verlust und Wut spielerisch-tänzerisch nähern. Tanzen gilt als Ausdruck von Glück und Ausgelassenheit – wie zeigt man dabei Weltschmerz?
JN: Wir speichern Erfahrungen im Körper. Das sind Emotionen, von denen wir uns oft abgekapselt haben oder die wir gar nicht erst zulassen. Im Stück suchen wir Orte der Wut und Traurigkeit in uns auf. Das sind Emotionen mit einem starken Drang, die sonst im Verborgenen bleiben.
DK: Die Gefühle übersetzen wir in Bewegungen zu einer Choreographie.
Glauben Sie, junge Menschen trauern vehementer als alte, lebenserfahrene?
DK: Ich kann mir vorstellen, dass es weniger Hemmungen gibt, weil man als junger Mensch noch nicht so viele soziale Erfahrungen gesammelt hat. Als Erwachsener agiert man vielleicht kontrollierter. Als Jugendlicher verspürt man dagegen viel Druck seitens der Schule oder durch die sozialen Medien.
JN: Jugendliche leiden unter den gesellschaftlichen Entwicklungen. Das hat man während der Coronapandemie gesehen. Die Jugendlichen reden auf jeden Fall darüber, wenn sie ermutigt werden, ihre Ängste zu offenbaren.
An den Aufführungen sind über ein Dutzend Darsteller:innen beteiligt. Werden Trauer und Wut dabei zum choralen Klagelied oder zum unüberschaubaren Amok?
JN: Wir haben tatsächlich einen Chor und auch Klagende. Eine Szene des ekstatischen Ausrastens könnte ebenfalls vorkommen, aber es gibt auch viele ruhige, intime Momente.
Hinter starken Gefühlen stehen oftmals persönliche Geschichten. Wie schützen Sie die Bühnenakteure vor psychischen Abgründen?
JN: Die Geschichten sind biografisch. Wir sind für die Darsteller:innen stabile Beziehungspersonen, aber keine Therapeutinnen. Dennoch achten wir sehr genau auf Grenzen und unterbrechen die Arbeit, wenn wir das Gefühl haben, das sich aus der Darstellung Probleme ergeben könnten.
DK: Die Jugendlichen sollen sich wohlfühlen. Daher gehen wir die Texte immer wieder durch und fragen nach, ob das so für die Öffentlichkeit bestimmt ist.
Über was trauern die jungen Menschen?
DK: Ein Thema war das Gefühl, dass die Kindheit vorbei ist, dass sie nun Verantwortung übernehmen müssen. Darüber hinaus wurde über den Zustand der Welt getrauert.
JN: Über Femizide und Rassismus. Das Spektrum war breit. Natürlich gehörte dazu auch die Oma, die gestorben ist.
Wie viel Bühnenerfahrung hat Ihr Ensemble?
DK: Es gibt einige, die schon mehrfach auf der Bühne standen, für andere ist es das erste Mal. Die Unerfahrenheit wird jedoch durch das Kollektiv getragen und macht den Reiz der Aufführungen mit aus.
Wie schwierig oder leicht war es eigentlich, den männlichen Akteuren das Weinen nahezubringen?
DK: Die Darsteller:innen haben sich ja bewusst dafür entschieden, dass sie mit der Thematik auf der Bühne stehen. Der Ausdruck von Trauer ist ein menschliches Bedürfnis. Die Jugendlichen haben sehr offen über ihre Verluste geredet. Da hatten auch wir als Regisseurinnen Tränen in den Augen.
Oftmals liegen Gegensätze nah beieinander. Wie viel Komik beinhaltet das Stück?
JN: Sehr viel. Weinen auf komische, überspitzte Art darzustellen ist uns wichtig.
DK: Man vergisst zwischendurch auch, warum man weint.
JN: Wir sprühen uns dann Tränen ins Gesicht. Die Leute müssen nicht schauspielerisch weinen können. Mitunter werden wir auch komplett übertreiben und die Trauer als etwas Heilsames zelebrieren.
Das Leiden bleibt selten stumm. Werden wir einen Soundtrack zum Stück hören?
DK: Ja. Das wird ein Mashup aus Liedern der Popkultur. Wir haben unter anderem Echt („Weinst du?“) und Bruno Mars dabei, vielleicht auch „Cry me a river“ von Justin Timberlake.
JN: Auf jeden Fall Paula Hartmann & Trettman mit „Atlantis“. Die Zeilen „Ich heul mich voll / Das trocknet nie wieder / Ich heul mich leer/ Liter um Liter“, finde ich grandios. Dazu kommen Elektronik-Sounds und Videos als akustische sowie visuelle Ebenen.
Trauer//Fall | 19. (UA), 21.4., weitere Termine im Mai | Schauspiel Köln, Depot 2 | 0221 22 12 84 00
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