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Jens Groß
Foto: Thilo Beu

„Wir können nicht immer nur schweigen!“

28. Mai 2024

Jens Groß inszeniert Heinrich Bölls Roman „Frauen vor Flusslandschaft“ am Theater Bonn – Premiere 06/24

Schauspieldirektor Jens Groß inszeniert am Theater Bonn Heinrich Bölls letzten Roman „Frauen vor Flusslandschaft“ über die verkrusteten Strukturen der Bonner Republik. Ein Gespräch über Frauen im Widerstand und gesellschaftliche Schweigespiralen.

choices: Herr Groß, Heinrich Bölls Roman „Frauen vor Flusslandschaft“ beschreibt die BRD Mitte der 1980er Jahre – was ist daran heute noch aktuell?

Jens Groß: „Frauen vor Flusslandschaft“ ist Heinrich Bölls letzter Roman, der fragmentarisch nach seinem Tod erschienen ist. Er zieht darin eine Bilanz nach 40 Jahren Bundesrepublik – und die fällt bitter aus. Eigentlich geht es Böll aber um die Wichtigkeit der Erinnerung und damit um die Angst, dass allzu viele Dinge unter den Teppich gekehrt werden und wurden. Im Roman wird beschrieben, dass alte Nazi-Größen wiederauftauchen und dass im Grunde nicht die Politiker regieren, sondern der Geldadel, heute würde man sagen die Finanzwirtschaft. Das alles hängt mit der nicht aufgearbeiteten Nazi-Vergangenheit zusammen. Und die Männer verlangen von ihren Frauen, dass sie den Mund halten und endlich vergessen sollen.

John von Düffel und Nadja Groß haben den Roman neu dramatisiert. Was unterscheidet diese Fassung von früheren?

Böll schreibt zwar über die Frauen, lässt aber trotzdem sehr viele Männer auftreten. Wir spitzen das zu und verdichten den Plot auf fünf Frauen, die dieser Gesellschaft überdrüssig sind und nicht mehr mitmachen wollen. Die Handlung haben wir in ein Sanatorium verlegt, in das diese Frauen von ihren Männern eingewiesen wurden, eben weil sie zu viel wissen und reden. Wir spitzen das nun auf die Frage zu: Wie können sich diese Frauen miteinander verbinden? Und wo wollen sie hin? Mich interessiert gerade die Seite der politischen Emanzipation daran. Denken Sie an die Dokumentation „Die Unbeugsamen“ über die ersten Politikerinnen der BRD und wie kritisch das politische Engagement von Frauen damals gesehen wurde. Zum anderen lese ich den Roman vor dem Hintergrund des aktuellen Rechtsrucks in der Gesellschaft. Wir haben zwar die Grundsituation etwas zugespitzt, aber alles basiert letztlich auf dem Roman, wir haben keinerlei Fremdtexte hinzugefügt. Die Fassung wurde auch von Bölls Sohn René so genehmigt.

Es gibt also keine einzige männliche Figur im Stück?

Es gibt keine männlichen Darsteller auf der Bühne. Wir hatten lange Diskussionen mit John von Düffel, der uns zahlreiche Vorschläge gemacht hat. Aber ich wollte diese Radikalisierung, dass das Stück ausschließlich von den Frauen dargestellt und erzählt wird. Logischerweise spielen die Männer eine Rolle, aber es wird nur über sie geredet, über ihre Verbrechen, ihr Verhalten, wer besonders häufig Frauen begrabscht. Es wird allerdings eine Szene geben, in der Männerstimmen eine Rolle spielen, in der also eine Außenwelt auf dieses Sanatorium blickt. 

Der Titel „Frauen vor Flusslandschaft“ klingt wie der Titel eines Gemäldes. Kann man sagen, Bölls Roman ist so etwas wie ein Tableau ohne viel Dramatik?

Ja, es ist ein Tableau der Bonner Republik nach 40 Jahren. Und diese Republik ist in den Augen von Böll ein sehr statisches Gebilde. Etwas, das er auf der einen Seite bewundert, aber zugleich als sehr erstarrt und renovierungsbedürftig wahrgenommen hat. Und dagegen setzt er – und das ist innerhalb des Tableaus genial – den Fluss. Das klingt für uns Bonner zunächst etwas kitschig. Aber der Fluss kann auf der einen Seite immer wieder Neues bringen, auf der anderen Seite aber auch vieles verschlingen, was dann im Schlamm stecken bleibt. Und dieser Fluss ist natürlich der Fluss der Erinnerungen. Insofern ist dieses Tableau ein tolles Bild zwischen Erstarrung und Erneuerung.

Kein Hoffnungsschimmer, nirgends?

Es gibt im Roman die Figur der Katharina. Sie ist promovierte Volkswirtschaftlerin, hat mit dem Sohn eines Grafen ein Kind, arbeitet aber als Bedienstete. Mithilfe dieser Doppelperspektive beschreibt sie die Zustände der Bonner Republik schon sehr genau. Ihr Name verweist ganz offenkundig auf Katharina Blum. Beide sind keine Revolutionärinnen, sondern reagieren auf äußere Ereignisse. In „Frauen vor Flusslandschaft“ ist dieses Ereignis ein Gesellschaftszustand der Erstarrung, der die Gefahr in sich birgt, dass alte Kräfte mit Nazi-Vergangenheit wieder ungestraft ans Licht kommen können. Darin liegt der Brückenschlag ins Heute. Es geht darum, wieder anfällig zu sein für bestimmte Parolen. Böll setzt seine Hoffnung, und darin liegt ein weiterer Brückenschlag, in die Frauen. Und er wählt eben nicht Politikerinnen, das hätte er auch machen können, sondern Hausfrauen, Bedienstete, Bankierstöchter – eine ganz wilde Mischung von Frauen – an der Seite ihrer Männer, die 30, 40 Jahre zugehört haben und jetzt sagen: „Es geht nicht mehr, wir können nicht immer nur schweigen.“ 

Frauen spielen in Bölls Romanen ja durchaus eine prominente Rolle.

Es ging Böll dabei darum, woher das Potenzial zum Widerspruch kommen könnte. Die Frauen in Romanen wie „Frauen vor Flusslandschaft“, „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ oder „Gruppenbild mit Dame“ sind widerständiger, nicht weil sie Revolutionärinnen wären, sondern weil sie sich dem Druck der öffentlichen Meinung widersetzen. Darum geht es Böll immer wieder. In „Frauen vor Flusslandschaft“ widersetzen sich die Frauen der propagierten Meinung, dass alles in Ordnung sei, dass Wahlen wirklich Einfluss darauf hätten, wer uns am Ende regiert und dass das Erinnern eher hinderlich als förderlich sei usw. Insofern ist es eben auch ein Stück über unsere Demokratie. 

Wer lange fälschlicherweise im Sanatorium lebt, glaubt vielleicht irgendwann an die eigene Krankheit und möchte den „Zauberberg“ gar nicht mehr verlassen.

Die Frauen in unserem Sanatorium fallen durchaus immer wieder in Strukturen zurück, die sie gelernt haben. Dieses luxuriöse Sanatorium mit allem Drum und Dran, in dem Frauen weggesperrt werden, die zu viel fragen und reden, wird aber nicht nur von den Männern finanziert, dort sollen auch „Erinnerungen verbogen“ werden, wie es im Roman heißt. Und es gibt eine Psychologin, von der wir nicht wissen, ob sie im Auftrag der Männer oder im Sinne der Frauen handelt, gerade auch weil sie ein ähnliches Schicksal hat. Und die große Frage bleibt: Wie endet der Abend? Denn auch bei Böll gibt kein wirkliches Ende. Wir haben uns jetzt entschieden, keinen neuen Text hinten dran zu stellen, sondern allein mit Bildern einen möglichen Ausblick auf das Heute und Morgen zu schaffen.

Frauen vor Flusslandschaft | 7. (P), 13., 15., 21., 27.6. | Theater Bonn | 0228 77 80 08

Interview: Hans-Christoph Zimmermann

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