Wie kann man sich heimisch fühlen in einem Land der Mörder, in dem einst die systematische Ausrottung des eigenen Volkes betrieben wurde – und in dem im Nachhinein keiner etwas gewusst haben wollte? Diese Frage versucht Michel Friedman in seinem autobiografisch geprägten Prosagedicht „Fremd“ zu beleuchten. Wohlgemerkt: zu beleuchten, nicht zu beantworten. Denn im Mittelpunkt des Textes, den Regisseurin Emel Aydoğdu für die Werkstattbühne des Theaters Bonn aufbereitet hat, steht der Zweifel – das Gefühl, nicht dazu gehören zu können. Friedman sucht nach seiner Identität, aber auch nach der aller Juden in Deutschland, von denen sich viele bis heute als Außenstehende fühlen, verstärkt durch die eigene Geschichte und die schweren Traumata aus der Eltern- und Großelterngeneration.
Kein leichter Stoff, zumal Friedman seinen Text mit Ellipsen, Sprachspielen, Fragmenten, Schlagworten und Klangkonvoluten spickt. Aber einer, der wichtig ist, weil er sowohl eine Aufarbeitung der Vergangenheit ist als auch ein Plädoyer für das Erinnern – und eine Gesellschaft, die das Fremde bzw. den Fremden sieht. Und ihn einfach akzeptiert. Julia Kathinka Philippi, Jacob Eckstein und Riccardo Ferreira übersetzen dieses Streben in starke, eindrucksvolle Bildsprache, die sie um Passagen aus Friedmans Buch „Judenhass“ ergänzen. Brillant zudem die Musik, die Yotam Schlezinger live einspielt und die von hebräischen Volksliedern bis zu einem ekstatischen Klanggewitter reicht, die den Kopf für ein paar Augenblicke entlasten, bevor es wieder hineingeht in die Zerrissenheit eines Menschen, der für viele Ausgegrenzte steht.
Fremd | Di 19.12. 20 Uhr | Werkstattbühne des Theaters Bonn am Boeselagerhof | 0228 77 80 08
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