Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
29 30 1 2 3 4 5
6 7 8 9 10 11 12

12.624 Beiträge zu
3.846 Filmen im Forum

Foto: Un-Label 2025, Annette Etges

Schreib dich frei!

15. September 2025

„Botin“ in der Alten Versteigerungshalle auf dem Großmarkt – Theater am Rhein 09/25

„Lieber Herr D., wissen Sie eigentlich, dass Sie ein Arschloch sind? Sie wissen, dass Sie ein Arschloch sind. Wenn man Menschen aus ihren Häusern vergrault, mit den niederträchtigsten Mitteln, dann muss man das wissen ...“, lautet ein nie abgesendeter Brief einer Ex-Mieterin, der im Archiv für nicht abgeschickte Nachrichten in der Alten Versteigerungshalle auf dem Großmarkt für zukünftige Generationen aufbewahrt wird. In einer unkonventionellen Feldstudie zu Kommunikation sammelte der Künstlerische Leiter Nils Rottgardt und sein Team um Regisseurin Philine Velhagen anonyme Botschaften, deren Zeilen für die Empfänger:innen (bisher) unsichtbar geblieben sind. Sortiert nach Kategorien wie „Verdrängung“, „Alkohol und Drogen“, „Arschlöcher“ oder „Probleme zu groß für einen allein“ verteilen die Mitarbeiter:innen des Archivs in der Verwaltungshalle die stetig eingehenden Dokumente. Der Inhalt der Briefe füllt den Raum mit einem bizarren mehrstimmigen Murmeln, das sich zum tranceartigen Soundtrack verdichtet. Besonders aufwühlende Auszüge, wie das empörte Schreiben an den Vermieter, trägt ein Kurier per Rad und Verstärkeranlage zu empfangsbereiten Passanten auf den Chlodwigplatz. Per Video ist das Publikum hier live dabei. Zuvor haben die Zuschauer:innen mehrere Stationen zur Verinnerlichung des Sujets durchlaufen, so konnten etwa durch eigenes Einsprechen Patenschaften für Nachrichten übernommen oder die bedrückenden Mitteilungen durch behutsame Massagen wieder aus dem Körper entlassen werden.

Die barrierefreie Produktion „Botin“ des Sozialunternehmens Un-Label zeigt neue Wege des zwischenmenschlichen (Miss-) Verständnisses auf und verwirft endgültig die klassischen Strukturen des Theaters mit seinen klaren Rollenverteilungen und beschränkten Räumlichkeiten. Das Faszinosum des rund zweistündigen Stückes ist gleichzeitig auch sein größtes Risiko: Die Inszenierung funktioniert nur, wenn die Besucher:innen zur aktiven Teilhabe bereit sind. Das gelingt in der öffentlichen Generalprobe vor der Premiere vorzüglich, ohne in Theatralik auszuarten. Eine der inhaltlich wie darstellerisch innovativsten Kölner Produktionen des Jahres setzt dabei heilsame Nachrichten frei. 

Barrierefreiheit: Die Aufführungen verwenden audiodeskriptive Anteile, ein Leitsystem für Menschen, die Langstöcke nutzen, und Brailleschrift zur Orientierung. Assistenzhunde sind willkommen. Die Vorstellungen am 13. und 14. September finden mit Verdolmetschung in deutscher Gebärdensprache statt. Auf dem Areal sind rollstuhlgerechte Toiletten aufgestellt, zudem gibt es persönliche Assistenten und einen Abholservice von den Bahn- oder Bushaltestellen.

Thomas Dahl

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

Neue Kinofilme

A Big Bold Beautiful Journey

Lesen Sie dazu auch:

„Der Tod ist immer theatral“
Theatermacher Rolf Dennemann ist gestorben – Theater in NRW 02/24

Die Kunst der Schlaflosigkeit
21. Kölner TheaterNacht am 2. Oktober – Prolog 09/23

Bis zum Sonnenkönig
„Molière“ beim NN Theater Freiluftfestival – Prolog 07/23

Neues ästhetisches Level
Studio Trafique hat eine eigene Spielstätte in Köln – Prolog 07/22

Dortmunder Turbulenzen
Schauspielchefin Julia Wissert unter Druck – Theater in NRW 07/22

Präfaschistische Atmo
Filmklassiker im nö theater – Theater am Rhein 03/22

Bachmann bleibt
Schauspielintendant verlängert seinen Vertrag – Theater in NRW 09/21

„Fehler identifizieren, Fehler heilen“
Bernd Streitberger über die Sanierung der Bühnen Köln – Premiere 08/19

Die Brandschutz-Lobby
Eine Sprinkleranlage flutet das Duisburger Theater – Theater in NRW 05/19

„Keine Angst vor Abos!“
Jutta Unger über die Besucherorganisation Freie Volksbühne e.V. – Interview 04/18

Von Jägern und Gejagten
Kölner Reihe Tanz mit Highlights im Forum Leverkusen – Tanz in NRW 06/16

Später, teurer, chaotischer
Die Kölner Bühnensanierung als unendliche Geschichte – Theater in NRW 01/16

Theater am Rhein.