Die Euphorie war groß. Revolution lag in der Luft, als mit Julia Wissert die erste Schwarze Intendantin das Schauspiel Dortmund übernahm. Nach nicht einmal zwei Jahren scheint der Zauber des Anfangs verflogen. Julia Wissert steht unter Beschuss und das hat mit Zahlen und einer Kündigung zu tun. Fakt 1: Die Auslastung ist erbärmlich. Netto stehen trostlose 22 Prozent zu Buche, nimmt man die freizügig verteilten Freikarten hinzu, kommt man auf 27 Prozent. Fakt 2: Die stellvertretende Intendantin und Chefdramaturgin Sabine Reich hat ihren Job fristlos gekündigt. Ein ungewöhnlicher Vorgang, weil Verträge im Theater in der Regel zum Ende der Spielzeit „aufgelöst“ werden. Das deutet auf ein schweres Zerwürfnis in der Theaterleitung hin. Die „persönlichen Gründe“, die die WAZ aus einem Schreiben der Theaterleitung an die Mitarbeiter:innen zitiert, dürften nicht mehr als Camouflage sein. Die erfahrene Dramaturgin Sabine Reich hat immerhin mit Intendanz-Kalibern wie Anselm Weber oder Frank Castorf gearbeitet.
Weiter berichtet die WAZ von schweren atmosphärischen Turbulenzen im Haus. Nachprüfbar ist das nicht, aber auch so hält der Fall Wissert einige Lehren bereit: Zum einen sollten Doppelspitzen hierarchisch und vertraglich gleichgestellt sein. Umso mehr, wenn – wie im Falle Wisserts – die Intendantin keinerlei Leitungserfahrung mitbringt. Zweitens macht gute Gesinnung offenbar noch keine gute Führung: Die beste antirassistische oder feministische Haltung scheint kein Garant für ein einvernehmliches Miteinander. Drittens ist das Publikum eines Stadttheaters weit diverser, als sich das antirassistischer Aktivismus träumen lässt. Es geht nicht darum, den Kanon über Bord zu werfen, sondern ihn vor einem Bewusstsein für Kolonialismus und Rassismus neu zu interpretieren und mit entsprechenden Projekten anzureichern.
Keine Frage: Julia Wissert hat ihren Job mitten in der Pandemie begonnen; Umstände, die man niemandem für seine/ihre erste Intendanz wünscht. Sie hat zudem in Sachen Spielplan Besserung gelobt. Nichtsdestotrotz: Das Schauspiel Essen, das ebenfalls eine weibliche Intendanz-Doppelspitze gewählt und eine weit konservativere Historie vorzuweisen hat, sollte sich den Dortmunder Fall sehr genau ansehen - und die entsprechenden Schlüsse daraus ziehen.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Der Tod ist immer theatral“
Theatermacher Rolf Dennemann ist gestorben – Theater in NRW 02/24
Die Kunst der Schlaflosigkeit
21. Kölner TheaterNacht am 2. Oktober – Prolog 09/23
Bis zum Sonnenkönig
„Molière“ beim NN Theater Freiluftfestival – Prolog 07/23
Neues ästhetisches Level
Studio Trafique hat eine eigene Spielstätte in Köln – Prolog 07/22
Präfaschistische Atmo
Filmklassiker im nö theater – Theater am Rhein 03/22
Bachmann bleibt
Schauspielintendant verlängert seinen Vertrag – Theater in NRW 09/21
„Fehler identifizieren, Fehler heilen“
Bernd Streitberger über die Sanierung der Bühnen Köln – Premiere 08/19
Die Brandschutz-Lobby
Eine Sprinkleranlage flutet das Duisburger Theater – Theater in NRW 05/19
„Keine Angst vor Abos!“
Jutta Unger über die Besucherorganisation Freie Volksbühne e.V. – Interview 04/18
Weihnachten im Megastore
Dortmunder Schauspiel bleibt in Hörde – Theater in NRW 10/16
Von Jägern und Gejagten
Kölner Reihe Tanz mit Highlights im Forum Leverkusen – Tanz in NRW 06/16
Später, teurer, chaotischer
Die Kölner Bühnensanierung als unendliche Geschichte – Theater in NRW 01/16
Schutz vor Verdienstausfällen
NRW plant Absicherung für freie Künstler – Theater in NRW 01/25
Offen und ambitioniert
Andreas Karlaganis wird neuer Generalintendant in Düsseldorf – Theater in NRW 12/24
Endspurt für Mammut-Projekt
Beethovenhalle kurz vor der Fertigstellung – Theater in NRW 11/24
Jünger und weiblicher
Neue Leitungsstruktur am Mülheimer Theater an der Ruhr – Theater in NRW 10/24
Überleben, um zu sterben
Bund will bei der Freien Szene kürzen – Theater in NRW 09/24
Bessere Bezahlung für freie Kunst
NRW führt Honoraruntergrenzen ein – Theater in NRW 08/24
Mit allen Wassern gewaschen
Franziska Werner wird neue Leiterin des Festivals Impulse – Theater in NRW 07/24
„Zero Waste“ am Theater
Das Theater Oberhausen nimmt teil am Projekt Greenstage – Theater in NRW 06/24
Demokratie schützen
Das Bündnis Die Vielen ruft zu neuen Aktionen auf – Theater in NRW 05/24
Theatrales Kleinod
Neues Intendanten-Duo am Schlosstheater Moers ab 2025 – Theater in NRW 04/24
Neue Arbeitszeitregelungen
Theater und Gewerkschaften verhandeln Tarifvertrag – Theater in NRW 03/24
Standbein und Spielbein
Pinar Karabulut und Rafael Sanchez gehen nach Zürich – Theater in NRW 01/24