High-Heels lässt man besser zu Hause. Sie eignen sich schlechterdings nicht, um über das löchrige Baustellengerüst zu laufen, das die Szenerie im Loft der EXPO XXI galerieartig umgibt. Und gelaufen wird viel: Der Zuschauer erwandert sich die Konzertinstallation von Schorsch Kamerun in Eigenregie. Via Kopfhörer – momentan bei den wechselnden Moden postdramatischer Performancekunst der letzte Schrei – lauscht das Publikum der Musik, die Kamerun und Band live in einem kleinen gläsernen Studio spielen.
Die Bühne von Katrin Nottrodt teilt sich in verschiedene Räume, die (gewesene) Arbeits- und Freizeitwelten der Gegenwart nachbilden. Die Büros der Kreativindustrie sind der Zerstörung zum Opfer gefallen, Szenarien der Verwüstung künden von einem Zustand des Dazwischen: So wie es war, wird es nicht bleiben – doch kommende Strukturen sind noch nicht etabliert.
An eine Wand werden Mosaike aus bunten Post-its geklebt. Eine Aerobic-Gruppe turnt, Lebensmittelkontrolleure sezieren Nahrungsmittel. Esoteriker meditieren, Hedonisten genießen. Dazwischen eine Pinocchio-Maske mit langer Lügennase. Man fühlt sich wie in einem zeitlich extrem überdehnten, begehbaren Videoclip. Kamerun bietet kulturkritische Diagnosen der Gegenwart, die einen weiten Bogen spannen von den Veränderungen an den Universitäten bis zu den globalen Protestbewegungen.
Die Disparität dessen, was da thematisiert wird, mag mit der Entstehung der Produktion zu tun haben: 50 Kölnerinnen und Kölner, die auch alle mitspielen, wurden nach ihren Wünschen und Utopien gefragt. Aus den Gesprächen wurden die Texte geformt. Wohl auch die von Martin Reinke, der als einziger professioneller Schauspieler mit von der Partie ist. Im grauen Anzug spricht er permanent in ein Diktiergerät. Irgendwann spaziert Reinke durch das Publikum, und nun hört man seine Stimme über die Kopfhörer. Er mäandert über den gesellschaftlich-kreativen Druck, über Multitasking und Überforderung.
Überfordert ist in gewissem Sinne auch das Publikum: Die szenischen Miniaturen über den Zeitgeist sind dramaturgisch nur lose zusammengehalten. Jeder Zuschauer sieht sein eigenes Stück. So viel Freiheit ist selten. Fragt sich nur, was man mit ihr anfängt.
„Der entkommene Aufstand“ | Konzept und Regie: Schorsch Kamerun I Schauspiel Köln, EXPO XXI | keine Termine im Januar | 0221 22 12 84 00
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