Sie stolpern, torkeln, straucheln. Fallen, stehen wieder auf. Ranjewskaja und ihr Bruder Gajew hüpfen auf der Stelle, rennen im Kreis und versuchen zu fliegen, so als sei das Leben ein einziger Kindergeburtstag. Nur die Luftballons fehlen. Überhaupt ist die Bühne (Kathrin Frosch) recht frugal: Das Landgut der beiden mit dem berühmten Kirschgarten ist bereits dem Erdboden gleichgemacht.
Dunkel schimmert das riesige Feld aus Erde auf der bis zur Brandmauer aufgerissenen Bühne. In der Mitte steht eine von Glühbirnen beleuchtete Drehscheibe. Der alte Diener Firs läuft zu Beginn mit einem Nachtlicht seine Runden. Die Herrschaften kommen spät – fünf Jahre war die verarmte Ranjewskaja (mehr Teenager als Diva: Lena Schwarz) nicht auf ihrem Gut. Sie gruppiert ihre Entourage um sich und gibt einen französischen Chanson zum Besten: Die Drehscheibe wird zur lebenden Spieluhr. Ein schönes Bild. Regisseurin Karin Henkel verweigert jeden Naturalismus und zeigt Tschechows Stück über die Unentschiedenheit im Angesicht der Veränderung als Groteske. Jeder Anflug von Melancholie gerät zur Farce.
1904 uraufgeführt ist „Der Kirschgarten“ Tschechows letztes Stück, von ihm selbst als „ein recht lustiges“ charakterisiert. „Viel und laut lachen“ sollte das Publikum. Und das kann es in Henkels Inszenierung durchaus. Durch Slapstick und Körperkomik eines hervorragend aufspielenden Ensembles entwirft sie das Bild einer Gesellschaft, die rat- und haltlos versucht, ihren eigenen Untergang zu ignorieren. Einzig der Geschäftsmann Lopachin (kerniger Macher mit Mutterwitz: Charly Hübner) hat eine Vision für die Zukunft: den Kirschgarten parzellieren und Ferienhäuser bauen. Doch die Ranjewskaja verweigert sich jedem seiner Vorschläge. Lopachin, Sohn von Leibeigenen, die einst hier schufteten, kauft schließlich den Kirschgarten und ist erst mal besoffen vor Glück. Doch dann ist „Schluss mit lustig“. Das Ensemble rennt noch eine Weile kopflos hin und her, während der alte Firs unbemerkt stirbt. Die Rufe „Auf in ein neues Leben“ verhallen. Karin Henkels Blick bleibt ironisch bis zum Schluss. Das ist in dieser Konsequenz beeindruckend und ermüdend zugleich. Kein Halt, nirgends.
„Der Kirschgarten“ I R: Karin Henkel I Schauspielhaus Köln | 30.1./5.2., 19.30 Uhr I www.schauspielkoeln.de
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