Das Leben in einer Kältekammer kann ganz schön aufregend sein. Immer dann wenn extreme Emotionen die Temperaturen erhöhen. Frank Wedekinds Lulu kann in den Bonner Kammerspielen moralische und existentielle Grenzen überschreiten, gefühlte Wärme entsteht da nicht. Wie auch? Ständig sind alle Mitspieler auf der Bühne. Oder sitzen in der ersten Reihe und schauen von dort zu. Ursache allen Lasters ist die ungezügelte Begehrlichkeit, so auch in der Inszenierung von Markus Dietz. Der lässt auf einer leeren Bühne, die durch mehrere absenkbare Kunststoffscheiben ein gewisses Maß an zeitlicher Unverortbarkeit erzeugen, die Scheinmoral wie zu Wedekinds Zeiten quasi hinter Vorhängen zelebrieren.
Alles hat einen rein choreografischen Anfang, das Bild der Lulu ist ein Foto. Lulu wurde einst als Kind vom reichen Zeitungsverleger Franz Schöning von der Straße geholt und zu seiner Geliebten gemacht. Schön ist ihrer sexualisierten Schönheit verfallen, verkuppelt sie aber aus Standesdünkel weiter, Dr. Goll und der Maler Schwarz folgen, überleben die Liaison aber nicht. Der eine kann den Betrug nicht ertragen, der andere nicht die verlorene Unschuld, Blut füllt die Zwischenräume der Kältekammer, die Lulu zeitweise beherrscht, sehr überzeugend gespielt von Anastasia Gubareva. Dietz hat dem Stück nur optisch eine Verjüngungskur verpasst, inhaltlich werden die Abgründe der bürgerlichen Psyche und Gesellschaft der Wedekindschen Monstertragödie (1914 zusammengebraut aus zwei Dramen) ausgekostet, bis zur Erschöpfung des Publikums. Lang ist der Weg zum Tod. Der Autor (1864-1918) arbeitete immerhin mehr als 20 Jahre lang an den verschiedenen Fassungen des Werkes, in dem das lustgesteuerte Wesen egal ob als Objekt der Begierde Lulu, Nelly oder Mignon gerufen, die weibliche Macht als Elementarkraft ausübt, sich in die Spitze der Gesellschaft liebt und von dort oben vertrieben wird. Die Gnade einer Kürzung lässt Dietz nicht walten und so geht es weiter und weiter zwischen den Plastikwänden. Auch Schöning lässt Lulu fallen und wird dafür von ihr erschossen.
Nach der Pause wird es nebelig, Regen fällt. Lulu beginnt in London auf der Straße ihr letztes Gefecht gegen den unausweichlichen Untergang. Nur noch Schönings Sohn Alwa, ihr Ziehvater Schigolch und die lesbische Gräfin Geschwitz teilen das klamme dreckige Loch, in dem Lulu anschaffen gehen muss, obwohl sie sich „ein Leben lang rein gehalten hat“. Der Zuschauer muss noch ein karnevalistisch-rheinisches Pseudo-Bonmot ertragen, dann beleuchten die achtzehn blauen Scheinwerfer endlich den endgültigen Untergang der Sippschaft, Jack the Ripper erledigt das blutig, der Lustmörder war schon im ersten Akt ein morbider Wunschtraum jener Frau, die schon als Kind missbraucht, aber eigentlich nie gebraucht wurde. Die Inszenierung verschwindet dann schnell im Dunkel der Bühne und bald auch aus dem Gedächtnisspeicher.
Wie es anders geht, zeigte in dieser Spielzeit Sybille Fabian in Wuppertal mit ihrer extrem-choreografierten Kurz-Version. Dort wanden sich alle Körper vor unbändiger Lust, der Wille hatte den Geist verlassen, die angebetete Lulu setzte selbst die Motorik außer Kraft. Eine sperrige Inszenierung, aber auch ungemein interessant, weil sie die Figurenkonstellation aus Sicht der Frau und nicht der tradierten Symbolik aller Männerphantasie baute.
„Lulu“ von Frank Wedekind I Theater Bonn
Weitere Termine in der nächsten Spielzeit I 0228 77 80 22
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