Die Verwandtschaft von Filmkunst und Bildender Kunst ist evident: Medienkünstler drehen Spielfilme und Filmemacher arbeiten im Kunstkontext. Im Rheinland ist das aktuell zweimal der Fall. Im Düsseldorfer Museum Kunstpalast breitet Wim Wenders sein fotografisches Werk aus mehreren Jahrzehnten aus, das er in rigider Trennung von seinen Filmen versteht. Im Wallraf-Richartz-Museum ist eine digitale 5-Kanal-Videoinstallation von Werner Herzog zu sehen, die sich auf drei Wände eines verdunkelten Raumes erstreckt und damit den Betrachter umfängt. „Hearsay of the Soul“ (Hörensagen der Seele), entstanden 2012 für die New Yorker Whitney Biennale, zeigt minutiös Ausschnitte aus den Landschaftsdarstellungen von Hercules Segers und integriert einen Passus aus dem Film „Ode of the Dawn of Man“ (2011) mit dem Close-up des Cellisten und Herzog-Filmkomponisten Ernst Reijseger.
Ausgangspunkt für diese Videoinstallation sind die Landschaftsschilderungen des holländischen Radierers Hercules Segers, und Herzogs Installation ist eine einzige grandiose, dabei werkgetreue Respektbekundung. Kongenial ist im Wallraf-Richartz-Museum, dass die Arbeiten von Segers – gemeinsam mit Blättern seiner Zeitgenossen und anonymen Zeichnungen – in den Räumen vor der Installation zu sehen sind. Sie sind eine Sensation. Hercules Segers, der um 1590 in Harlem geboren wurde und um 1635 gestorben ist, gilt mit seinem Werk als einer der geheimnisvollsten Künstler überhaupt. Seine Sache ist die panoramatisch verstandene Landschaft, die er in filigraner Zeichnung in der Zusammenziehung mehrerer Raumschichten mit unterschiedlich kargen Vegetationen auf oft handtellergroßen Blättern erschafft. Rembrandt hat Segers verehrt. Er muss gezeichnet haben, aber belegt sind heute lediglich zwei Zeichnungen. Segers gilt als Koryphäe für die Radierung, und er gehört zu den experimentierfreudigen Vertretern dieses Mediums. Teils hängt dies mit seiner Armut zusammen, denn er musste mit seinen Kupferplatten haushalten. Er hat sie für verschiedene Drucke benutzt. Das führt etwa dazu, dass mitten in einer Landschaft eine Schiffstakelage auftaucht.
Werner Herzog hat die Radierungen von Segers schon früh für sich entdeckt. Er hat darüber 1983 in der Süddeutschen Zeitung geschrieben: „Seine Landschaften sind gar keine Landschaften, sondern Seelenzustände: Angst, Gott- und Menschenverlassenheit, Einsamkeit, Schwermut, Traumvisionen“, und genau darum geht es ihm in den Naturschilderungen seiner eigenen Filme. Diese Sicht und Erfahrung von Landschaft, das Ekstatische und Intensive in der Konfrontation – und zugleich so Geheimnisvolle und darin Abstrakte – kommt nun in der Videoinstallation selbst zum Ausdruck. Aber eigentlich ist dort alles ganz einfach. Herzog fokussiert mit der Kamera die Kulminationszentren etlicher Radierungen. Er tastet die Liniengespinste wie mit der Lupe ab, zoomt wie beim ersten Sehen heran, wiederholt das auf den benachbarten Segmenten der Projektion, aus denen die Darstellungen langsam gleiten. Er wechselt die Radierung und ändert dabei die Tönung der Aufnahme. Und plötzlich meldet sich Herzog als Filmemacher mit dem Hang zum Pathos zu Wort. Die filmische Projektion öffnet sich mittig und wir sehen Ernst Rijseger beim Spiel auf dem Cello. Ausdrucksstark, mit offenem Mund, also furios und von existenzieller Hingabe, nehmen er und seine Musik mehr und mehr Platz zwischen den Segers-Radierungen ein und drücken diese für einen Moment an den Rand. Herzog betont damit noch das unerhört Moderne aus Naturalismus und reiner Erfindung in den Blättern von Hercules Segers. Er teilt mit, dass sie Revolution waren und vielleicht noch sind. Selten war alte Kunst so zeitgenössisch.
„Werner Herzog & Hercules Segers: Seelenlandschaften“ | bis 12.7. | Wallraf-Richartz-Museum | www.wallraf.museum
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