Dinçer Güçyeter ist ein Mann, der sich nicht so leicht in eine Kategorie stecken lässt: Verlagsgründer, Lyriker, seit Kurzem auch Romanautor – aber auch Gabelstaplerfahrer in Teilzeit. Die Frage danach, wie er zum Schreiben gekommen ist, beantwortet er so: „Ich denke, die meisten kommen mit diesem Trieb zur Welt.“ Es herrsche eine Dringlichkeit, Geschichten zu erzählen – in welcher Form auch immer. Nach einer Ausbildung zum Werkzeugmechaniker und einer Tätigkeit als Gastronom gründete Güçyeter deshalb 2012 den ELIF Verlag. Der Programmschwerpunkt: Lyrik. „Allein Schreiben wäre mir zu langweilig gewesen“, so der 43-Jährige. Stattdessen habe er eine „Werkstatt“ gründen wollen, in der viele Autor:innen gemeinsam ihre literarischen Projekte verwirklichen können.
Auch Güçyeter selbst veröffentlichte in seinem Verlag diverse Lyrikbände, darunter „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“, für den er 2022 den Peter-Huchel-Preis gewann. Zu seinem Romandebüt „Unser Deutschlandmärchen“ ist er dabei eher zufällig gekommen: „Ich habe in den sozialen Medien immer wieder kleine Geschichten aus meinem Alltag gepostet, die große Resonanz fanden.“ Vor zwei Jahren sei dann seine Verlegerin Nikola Richter von Mikrotext auf ihn zugekommen und habe ihn gefragt, ob er sich vorstellen könne, alle Anekdoten in einem Buch zu veröffentlichen. Der zweifache Vater sagte zu – der Beginn von „Unser Deutschlandmärchen“.
Der Alltag, auf den sich Güçyeter darin bezieht, ist der eines Sohnes von Gastarbeiter:innen. Denn seine Familie kommt ursprünglich aus Anatolien; der Vater kam in den 60er Jahren als Erster der Familie nach Deutschland. Güçyeters Roman umfasst dabei weit mehr als nur seine eigene Geschichte: Er verwendet viele verschiedene Stimmen, und er folgt der Familiengeschichte über ein Jahrhundert lang. Von ihren Wurzeln in Anatolien, den weiten Weg nach Deutschland, bis zur Integration in eine neue Kultur, ein fremdes Land. „Es gibt die unterschiedlichsten Begegnungen in diesem Roman“, sagt der 43-Jährige. „Die deutschen Nachbarn, eine Kneipe, ein Bordell, die Wunden aus der Vergangenheit.“ Deshalb sei der Roman auch nicht nur die Geschichte seiner Familie, so Güçyeter. „Mit ‚Uns‘ meine ich alle, auch die Leser:innen, die den Text vielleicht in eigener Fantasie ergänzen werden.“
Dinçer Güçyeter: Unser Deutschlandmärchen | Do 24.11. 19.30 Uhr | Literaturhaus Köln (und Livestream) | www.literaturhaus-koeln.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Vom Arbeiterkind zum Autor
Martin Becker liest im Literaturhaus aus „Die Arbeiter“ – Lesung 04/24
Schönheit als Kraftquelle
Gabriele von Arnim im Literaturhaus – Lesung 10/23
Alltägliche Herausforderungen
Julia Trompeter liest im Literaturhaus – Lesung 03/23
Stimme für die Frauen im Iran
Faribā Vafī im Literaturhaus Köln — Lesung 01/23
Aufklärung neu gedacht
Angela Steidele im Literaturhaus – Literatur 09/22
Spaniens Literatur zu Gast in Köln
Isaac Rosa und Marta Sanz im Literaturhaus Köln – Lesung 06/22
Georgisch-deutsche Kultur
Nino Haratischwili im Literaturhaus – Lesung 06/22
Poesie der Erinnerung
Esther Kinsky im Literaturhaus Köln – Lesung 04/22
Literarischer Präsentierteller
Die Kölner Literaturnacht ist zurück – Festival 09/21
Abenteuerferien an der Ostsee
„Am schönsten ist es in Sommerby“ von Kirsten Boie – Vorlesung 05/24
Stabilisieren des inneren Systems
Volker Buschs Ratgeber zur mentalen Gesundheit – Literatur 05/24
Stadt der Gewalt
„Durch die dunkelste Nacht“ von Hervé Le Corre – Textwelten 05/24
Von Kant bis in die Unterwelt
Zarte und harte Comicgeschichten – ComicKultur 05/24
Kindheit zwischen Buchseiten
„Die kleinen Bücher der kleinen Brontës“ von Sara O’Leary und Briony May Smith – Vorlesung 05/24
Grenzen überwinden
„Frieda, Nikki und die Grenzkuh“ von Uticha Marmon – Vorlesung 04/24
Erwachsen werden
„Paare: Eine Liebesgeschichte“ von Maggie Millner – Textwelten 04/24
Female (Comic-)Future
Comics mit widerspenstigen Frauenfiguren – ComicKultur 04/24
Wortspielspaß und Sprachsensibilität
Rebecca Guggers und Simon Röthlisbergers „Der Wortschatz“ – Vorlesung 03/24
Lebensfreunde wiederfinden
„Ich mach dich froh!“ von Corrinne Averiss und Isabelle Follath – Vorlesung 03/24
Spurensuche
Comics zwischen Wirklichkeit, Fantasie und Spektakel – ComicKultur 03/24
Das alles ist uns ganz nah
„Spur und Abweg“ von Kurt Tallert – Textwelten 03/24
Wut ist gut
„Warum ich Feministin bin“ von Chimamanda Ngozi Adichie – Vorlesung 03/24
Unschuldig bis zum Beweis der Schuld
„Der war’s“ von Juli Zeh und Elisa Hoven – Vorlesung 02/24
Das Drama der Frau um die 50
„So wie du mich willst“ von Camille Laurens – Textwelten 02/24