„Man wünscht sich, dass das eigene Kind nicht mit den falschen Leuten in Kontakt kommt. Zum Beispiel mit jemandem wie Ihnen. Das können Sie verstehen, oder?“, will der Staatsanwalt von Emil wissen. Emil hat einen skurrilen Werdegang hinter sich, doch eigentlich gehört er nicht zu den Bösen. Mittelmäßig bekannt wird er als Bewohner eines Tiny Houses in einer Musterhaussiedlung. Sein Leben wird ununterbrochen gestreamt, soll das Wohnerlebnis für künftige Kund:innen nachvollziehbar machen. Aber nach Brandstiftungen in der Siedlung verliert Emil seinen Arbeitsplatz. Zufällig findet er eine neue Stelle als Social Media Manager bei PayNice, einem undurchsichtigen Zahlungsdienstleister. Es folgt die Insolvenz, der Chef setzt sich ins Ausland ab. Emil will einen Neustart als Lehrer wagen. Doch die Ermittlungen rund um PayNice laufen noch.
„Tiny House“ ist ein Bildungsroman rund um einen Protagonisten, der naiv, freundlich und loyal wie der Hund Rantanplan in den Lucky Luke-Comics durch das Leben streift. Er ist hyperflexibel, sinnbildliche Satire für eine Generation, von der verlangt wird, selbstoptimiert neue Rollen auszufüllen, beruflich weiterzuziehen, agil zu sein. Wurmitzer verortet seine bissige Erzählung in Österreich vor dem Hintergrund einer erstarkenden rechten Szene. Selbstherrlichkeit und Populismus ziehen sich durch Meetings sowie neue und alte Freundschaften. Der Protagonist hingegen hat keine Meinung; er sehnt sich nach einer Instanz in den sozialen Medien, die ihn und seine Inhalte bewertet. Ohnehin sei er nur „stummer Solitär, ein Eremit, der sein tiny Dasein streamt.“ Gerade das macht ihn zum Produkt, der Autor zieht die Figur durch den Fleischwolf des Turbokapitalismus. Wurmitzer spickt die Erzählung mit zahlreichen (abgewandelten) Zitaten aus Marketing, Gedichten und Songtexten: „Hier bin ich Mensch, hier esse ich Vitello tonnato […]“, „jedem Anfang wohnt irgendwas inne“, „das weiß sie, das weiß ich“. Dank dieses besonderen, lapidaren Sounds sind die vielen Umbrüche, Zufälle und surrealen Momente auf vergleichsweise wenigen Seiten amüsant zu lesen.
Tiny House | Deutsche Originalausgabe | Aufbau | 221 S. | 22 Euro
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