Fernanda Melchor ist immer noch ein literarischer Geheimtipp, obwohl die 43-jährige Mexikanerin zu den interessantesten Autorinnen Lateinamerikas gehört. An Würdigungen gerade in Deutschland fehlt es nicht, wurde sie doch schon mit dem Anna-Seghers-Preis und dem Literaturpreis des Hauses der Kulturen ausgezeichnet. Ihr Debüt „Das hier ist nicht Miami“ vereinigt zwölf sogenannte Crónicas aus den Nullerjahren in sich, eine erstaunlich offene und zugleich erzählstarke literarische Form. In ihr verbindet die Mexikanerin Erfahrungen, die sie während ihrer Jahre als Journalistin gesammelt hat mit Reflexionen über das Leben und dem Zustand ihrer Heimatstadt Veracruz, aber vor allem öffnet sie den Blick für das Schicksal einzelner Menschen.
Etwa für die Schönheitskönigin, die im Karneval von der örtlichen Society und den Gazetten gehypt wird, später jedoch als Mörderin ihrer beiden Kinder im Gefängnis landet. Bis dann Zweifel aufkommen, ob sie nicht eine Sklavin der Drogenbanden gewesen sei und es einen Komplott zwischen den Narcos, der Polizei, der Politik und den Medien gegeben habe. Ein zentrales Thema in den Geschichten von Fernanda Melchor ist die Vergiftung des gesellschaftlichen Konsenses durch die Korruption zwischen Politik und Drogenhandel. Die Rolle der Frauen bleibt in diesem Machtgefüge prekär, müssen sie sich doch Schutz bei Kriminellen in einer Welt allgegenwärtiger Gewalt suchen. Noch hilfloser sind die Migranten aus der Karibik, deren Schicksal Melchor in ihrer Titelerzählung „Hier ist nicht Miami“ aus dem Blick eines einheimischen Gymnasiasten beschreibt. In kurzen packenden Szenenbildern zeigt sie eine Gruppe Flüchtender, die versehentlich in Veracruz strandet.
Melchor beherrscht einen glasklaren Realismus, der behutsam Distanz zum Geschehen hält und daher frei von jeder Sentimentalität bleibt. Das ist schon ein Kunststück angesichts der Gewalt, dem Leid und dem Unrecht, das dieses Land in einer Art verdecktem Bürgerkrieg durchzieht. Die Crónicas geben sich aber nicht der Emotion hin. Ihre Aktualität besteht in einer sinnlichen Rationalität, die einen beim Lesen eine Story nach der anderen verschlingen lässt.
Fernanda Melchor: Das hier ist nicht Miami | A. d. mex. Spanisch v. Angelica Ammar | Wagenbach | 160 Seiten | 20 Euro
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