Die Erzählerin lebt mit ihrem Partner Buster in einer heruntergekommenen Fabrikhalle. Ihre „Wohnfähigkeit“ für eine andere Unterkunft konnten sie nicht hinreichend mit Dokumenten belegen. Von der Decke tropft es, sie wacht morgens mit nassen Beinen auf. Es ist gerade genug Geld für Lebensmittel da. Buster sucht als Tänzer eine neue Kompanie. Doch der Weg ist steinig für ihn, da er nicht als Angehöriger einer reichen Klasse geboren wurde. Die Erzählerin will ihm zum Durchbruch verhelfen. Umso unverständlicher ist für sie, als Buster sich einer Truppe Straßenmusiker:innen und -tänzer:innen anschließt. Auf einmal ist Geld da – doch ist es die Art von Geld, von der sie leben will? Ab diesem Moment driftet die Beziehung auseinander, die Erzählerin flüchtet sich ins Metaverse, eine digitale Parallelwelt.
In ihrem Debütroman behandelt Thea Mantwill Klassismus und vermeintlichen Sozialneid in einem dystopischen Setting der nahen Zukunft. Die Klassenunterschiede sind noch größer, Wohnraum ist noch knapper. Mantwills Stil ist unmittelbar und beschönigt nicht. Fotos des Lebens am Existenzminimum, die die Erzählerin im Metaverse teilt, werden von anderen Nutzer:innen romantisch verklärt und als poetisch gelesen. Das treibt vorhandene Tendenzen in heutigen sozialen Medien glaubwürdig auf die Spitze. Die Einsamkeit in der analogen Welt ist nachvollziehbar dargestellt, die auf die erste Metaverse-Nutzung folgende Star-Werdung allerdings nur schablonenhaft ausgeführt. Nach einer Handvoll Posts ist die Protagonistin gleich ein „Idol“ im Digitalen. Follower:innen versuchen, den Ort ihrer Fotos ausfindig zu machen. Sie wird fotografiert, als sie in einem Café Zuflucht vor den Ereignissen der Nacht sucht. Ein verletzlicher Moment, öffentlich geteilt. Plötzlich gibt es Erwartungen und Ansprüche, die mit dem Status „Idol“ einhergehen. Natürlich kann ein Hype über Nacht entstehen. Gesellschaftskritik steht hier aber stärker im Fokus als erzählerische Nachvollziehbarkeit. Prägnant an dem Roman ist daher vor allem der Zwischenzustand, in dem sich die Hauptfiguren befinden. Am Rand der Gesellschaft suchen sie in einem bedrückenden Szenario nach Räumen, die sie sich erschließen können.
Glühfarbe | Deutsche Originalausgabe | März Verlag | 154 S. | 22 Euro
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Die Front zwischen Frauenschenkeln
„Der Sohn und das Schneeflöckchen“ von Vernesa Berbo – Literatur 10/25
Kochkunst und Krokodile
Philippinische Autor:innen in Bonn
Am Rand der Gesellschaft
Belinda Cannone liest in Köln
Sehnsüchte und Albträume
Georgi Gospodinov im Literarischen Salon
Keine Angst vor Gewittern
„Donnerfee und Blitzfee“ von Han Kang – Vorlesung 09/25
Roman eines Nachgeborenen
„Buch der Gesichter“ von Marko Dinić – Literatur 09/25
Süß und bitter ist das Erwachsenwerden
„Fliegender Wechsel“ von Barbara Trapido – Textwelten 09/25
Geteilte Sorgen
„Lupo, was bedrückt dich?“ von Catherine Rayner – Vorlesung 08/25
Augen auf Entdeckungsreise
„Jetzt geht’s los!“ von Philip Waechter – Vorlesung 08/25
Eine wahre Fluchtgeschichte
„Wie ein Foto unser Leben rettete“ von Maya C. Klinger & Isabel Kreitz – Vorlesung 07/25
Die Kraft der Erinnerung
„Das Geschenk des Elefanten“ von Tanja Wenz – Vorlesung 07/25
Alternative Realität in Tokyo
„Tokyo Sympathy Tower“ von Rie Qudan – Literatur 07/25
Im Spiegel des Anderen
„Der Junge im Taxi“ von Sylvain Prudhomme – Textwelten 10/25
Alpinismus im Bilderbuch
„Auf in die Berge!“ von Katja Seifert – Vorlesung 09/25
Erste Male zwischen den Welten
„Amphibium“ von Tyler Wetherall – Literatur 08/25
Düster und sinnlich
„Das hier ist nicht Miami“ von Fernanda Melchor – Textwelten 08/25
Zart und kraftvoll zugleich
„Perlen“ von Siân Hughes – Textwelten 07/25