Die Dystopie gehört zu den beliebtesten Genres der Science Fiction. Ihren Reiz bezieht sie aus der Verlängerung einer bedrohlichen Gegenwart in eine extrem düstere Zukunft. Dass diese Zukunft auch in der Vergangenheit liegen kann, führen jetzt der Autor Philipp Löhle und die Regisseurin Bernadette Sonnenbichler am Schauspielhaus Düsseldorf vor. Das Stück „Die Mitwisser“ meint zwar die Gegenwart, spielt aber in den futurologisch besessenen 1960er/70er Jahren, zumindest wenn man Bühnenbildner Martin Miotk glauben darf. Ein holzvertäfeltes gestuftes Wohnzimmer, dessen Wände und Türen mit abgerundeten Alukanten versehen sind, eine schwebende Stereoanlage in Tropfenform, ein aus der Wand herausfahrbares Ehebett, Elektrosounds im Stil von Kraftwerk und Eno als akustische Möblierung, Darsteller in Schlaghosen und Kunstlederjacken – die gute alte Zeit, als der Glaube an eine gesellschaftlich sinnvolle Nutzung von Technologie noch geholfen hat.
Löhles Held Theo Glass (Sebastian Tessenow) ist Sci-Fi-mäßig in einem Institut für enzyklopädisches Wissens angestellt, holt sich aber einen avatarischen Kwant ins Heim, der als sog. Assistent – Alexa lässt grüßen – von der Zeitansage über die Haushaltsorganisation bis zur Ehe-Evalution das gesamte Leben datenmäßig erfasst hat. Florian Lange mit Prinz Eisenherzfrisur spielt ihn als mechanisch lächelnden Bürokraten-Futurozombie, der Auskünfte gern mit Werbebotschaften verknüpft und ständig „Gefällt mir!“ trompetet. Überhaupt hat Löhle das Digitalwording gnadenlos eingedeutscht wie „Gesichtsbuch“ oder „Verfolger“. Die Regie lässt dazu passend den allwissenden Kwant ganz analog sein Wissen aus Aktenordnern zitieren. Löhles Stück ist archäologischer Sci-Fi-Boulevard, der kalauert, witzelt und blödelt – und darin auch die Hilflosigkeit des Theaters angesichts von Digitalisierung, Robotik und KI exemplifiziert. Ironische Hilferufe im dunklen Digitalisierungs-Wald.
Selbstverständlich arbeitet „Die Mitwisser“ den aktuellen Themenkatalog gewissenhaft ab. Theos mühselige Wissensaufbereitung am Resopalschreibtisch wird allmählich von Kwant übernommen, während sein Herrchen auf der Yogamatte sich auf physische Selbstoptimierung konzentriert. Ehefrau Anna Glass (Tanja Schleiff) unterwirft sich nach anfänglicher Kritik der Kwantschen Psychoevaluation, küsst den Avatar und macht mit ihm einen Online-Blumenhandel auf. Lou Strengers Sabrina, Ex-Arbeitskollegin und Teilzeitgeliebte Theos, verlegt sich als Schminkgirl „Babsi Bunt“ ebenfalls auf ein Online-Dasein. Algorithmisch-reaktionäre Geschlechtertypologie. Theo ähnelt schließlich dem rebellierenden Winston Smith aus Orwells „1984“ und gibt ein absurdes Interview voller aufklärerischem Pathos – während die sich rasant vermehrenden Kwants als deus in machina über das Beleuchtungsgitter an der Decke der Spielstätte Central kriechen und selbst noch die Kritik an der eigenen Herrschaft steuern. So lustig können Dystopien aus der zukünftigen Vergangenheit sein!
„Die Mitwisser“ | R: Bernadette Sonnenbichler | 10.6. 18.30 Uhr, 15., 25.6. 20 Uhr | Düsseldorfer Schauspielhaus | 0211 36 99 11
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