Die Welt hat sich weitergedreht, seit der Adel das russische Reich in seinen Klauen hielt und Dostojewski seinen Idioten schrieb. Vielleicht ist es eine Untergangsvision auf dem Hintergrund seines jahrelangen Zwangsaufenthalts in Sibirien, es bleibt ein Stück Weltliteratur über den Sinn des Lebens und des Leidens. Regisseur Matthias Hartmann hat „Der Idiot" für die Theater in Dresden und Düsseldorf auf die Bühne designed, mit einer eigenen Vision auf Gutmenschentum und zwanghaft ablaufende Kausalitäten zwischen Liebe, Gier und Genuss und der latent immer vorhandenen Verlorenheit eines Verstandes. Der Idiot hier ist keiner, die Idioten bleiben es ihr ganzes Leben. Vier Stunden, zwei Pausen, Anfälle nicht ausgeschlossen.
Was geht ab? Der junge, leicht devote Fürst Myschkin kehrt nach Jahren aus dem Schweizer Sanatorium nach St. Petersburg zurück und begegnet im Zug dem Rogoschin (Christian Erdmann), der zu seiner Erbschaft fährt und von Nastassja erzählt. Zu sehen ist dabei auf der tonlos grauen Surface-Bühne nichts. Das Ensemble zischelt die Vorbeifahrt, das Licht streifelt die beleuchteten Abteilfenster und der spielwütige Christian Erdmann imitiert die Bahnschwellen mit den Lichtschachtabdeckungen. Für Hartmanns Ideen legen sich die Schauspieler ins Zeug. Sie werden Teil einer Art antikem Satyrspiel, bei dem die erzählende Romanhandlung Dostojewskijs Teil der Dialoge wird, die sie sich teilen, deren Handlungsanweisungen sie sich oft widersetzen oder die sie spöttisch kommentieren. Nastassja Filippowna Baraschkowa widersetzt sich niemand, sie ist die Herrscherin der Bühne, des Geschehens, selbst wenn sie es verlassen hat. Yohanna Schwertfeger hält dieses schauspielerische Niveau vom splitternackten Auftritt im Pelz bis zum letzten Atemzug unter Seidentüchern. Erst recht, wenn mal richtig Kohle im Kamin verbrennt.
Wie ein Triptychon wirkt die Szenerie immer. Ein kastenförmiges Tafelbild bildet sie. In der Mitte, durch Ausziehwände separiert, findet die eigentliche Handlung statt, in der rechten und linken Tafel wird zugearbeitet. Hier werden Geräusche gemacht, auch kurz das in diesem Roman eigentlich nie vorkommende Volk gespielt. Dort räkeln sich das Böse, die Liebe, der Vorsatz und die Vergebung. André Kaczmrczyk beeindruckt anfangs mit seiner offenen Gestik, dem heiligen Schein seiner reinen Kinderseele, doch mit den Stunden verliert sich diese Aura und die devote Mimik bekommt etwas zu viel chaplineske Monotonie. Dafür erspart sich und uns die Regie eine Verortung, russische Folklore und zeitauthentische Kostümierungen. Modernisiert ist die Sprache, es plätschert, es spaßt, tu was du schreibst, originell statt normal. Und doch – die adlige Gesellschaft tut der armen Seele nicht gut, nicht gut, da hilft auch keine noch so große Erbschaft. Nur ein gefleischter Lüstling ist irgendwann weg. Kommentar: Ab jetzt taucht der Großgrundbesitzer Tozkij im Roman nicht mehr auf. Hartmanns Choreografie in dieser Kiste ist bewundernswert, rechts links vorne hinten, alle extrem spielfreudigen Protagonisten sind ständig mit irgendeinem Alltagsgeschäft beschäftigt, die ganze Geschichte ist gut erzählt, die 240 Minuten werden kein Zwangsaufenthalt. Anschauen.
„Der Idiot“ | R: Matthias Hartmann | Sa 12.11. 19 Uhr, So 13.11. 18 Uhr | Central am Bahnhof Düsseldorf | 0211 36 99 11
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