raum13? Wie? Kenne ich nicht. Wo ist das denn überhaupt? Die Wegbeschreibung dorthin wird oft mit Stirnrunzeln zur Kenntnis genommen: In dieser Gegend? Da gibt es doch nichts. Das stimmt natürlich nicht. Einen knappen Kilometer hinter dem Messekreisel auf der Deutz-Mülheimer Straße steht die Wiege der Industrialisierung der Welt, hier wurde der erste Gasmotor gebaut, später dann auch der Ottomotor, der Start für die freie automobile Bewegungsmöglichkeit. Hinter der 400 Meter langen Backsteinfront mit unterschiedlichen Baustilen entsteht das interessanteste und größte Stadtentwicklungsprojekt. Auf großen Schautafeln ist bildlich dargestellt, wie es sich hier zukünftig wohnen und arbeiten lässt. Zunächst aber kann die Industriebrache regelmäßig besichtigt werden, nicht nur die ausgeplünderten, fast gruselliegen Werkshallen, wo Metalldiebe das Kupfer aus dem riesigen Kabeln geklaut haben. Und wo regelmäßig politisches Theater gespielt wird, das unter die Haut geht.
Man kommt auch durch die mit Marmor verkleidete ehemalige Empfangshalle am stillgelegten Aufzug vorbei und über die große Freitreppe in die Büroetage, mit Mobiliar aus früheren Vorstandsbüros, mit großen Aktenstapeln in der Personalabteilung, wo man mit Datenschutz noch nicht viel am Hut hatte, mit baumstammdicken Kabelsträngen aus den Decken. Es riecht modrig nach Historie, nach Generationen von Werktätigen. Wo man früher nur mit dem Werksausweis hereinkam, haben Anja Kolacek und Mark Leßle, ehemalige Kölner Theaterleute, heute das Gebäude für alle neugierigen Bürger geöffnet. Der Ort ist eigentlich würdig auch als „Weltkulturerbe“, nur – so Leßle – hat leider noch niemand einen Antrag gestellt. Zahlreiche spannende und sehr nachdenklich machende „Aufführungen“ und Konzerte haben in den Industriehallen und dem Bürotrakt stattgefunden, immer im Zusammenhang mit Industrialisierung und gesellschaftlichem Wandel, dem Generalthema dieses Kunstprojektes. In den verwunschenen Innenhof flatterten auch schon Exemplare des ersten Grundgesetzes der Weimarer Republik, hier knatterten live historische Motoren, und Anja kutschierte Besucher eine Runde mit einer alten BMW Isetta.
Am 22. September gab es eine Premiere in der zweiten Etage, die bisher nie genutzt war, nein, sogar fünf Premieren und zahlreiche Folgetermine bis Mitte Oktober. Anja und Marc haben hier weitere Schichten für das Projekt „Zeitspiralfedern“ freigelegt, mit erheblicher körperlicher Putzarbeit durch ein weggewehtes Dach, Vandalismus mit eingeschlagenen Scheiben und Wasserschäden, mit Taubenscheiße und mit der Entfernung von zwei Wänden, um den Blick auf die Werkshallen zu ermöglichen. Angestrahlt von einer neuen Beleuchtungsanlage gibt es zahlreiche neue Texte und großformatige Bilder, natürlich auch einiges von früheren Aktivitäten. Keine Retrospektive, aber natürlich auch keine echte „Uraufführung“, sondern eher eine Collage. Denn das Verständnis der sympathischen Raum13-Macher geht ohnehin weg vom herkömmlichen Theaterstück mit Zuschauern, denen man eine Geschichte erzählt, mit einem Anfang und einem Ende. Deren Kunstobjekt läuft seit siebeneinhalb Jahren, man arbeitet kontinuierlich dran, öffnet es für die Zuschauer, arbeitet wieder dran. Und öffnet wieder. So kann man die Stadtentwicklung noch einmal neu denken in diesem wichtigen Objekt für die Kulturgeschichte. Denn man fragt sich zu Recht, was unsere Gesellschaft in den 150 Jahren Wandel dahin gebracht hat, wo wir jetzt sind.
Die „Premierengäste“ wandeln einen endlosen Flur entlang mit Einblicken in den eigentlichen „Theaterraum“, vorbei an großformatigen Fotografien und Texten. Hier begegnet man den Gründervätern Nikolaus Otto und Eugen Langen und Bildern früherer Kunst-Happenings, Fotos von altem Adel und ehemaligen Arbeitern. Ein Fließband transportiert unablässig Industrieprodukte, eine Modellschreinerin präsentiert ihre filigran Kunst und die Performerin Mia Frimmer liest von ihrem übervollen Schreibtisch scheinbar wahllos und eher beiläufig kurze Texte: Zeitzeugenberichte früherer Arbeiter, aus Göbbels‘ Tagebuch, von Brecht, aus der Beschreibung der industriellen Produktion des Werkes, aus „Schönheit der Vergänglichkeit“, einer früheren Collage von Raum13.
Auch die Musik ist live, Hans-Joachim Irmler (Begründer des Krautrock), Matthis Mayr, Carl Friedrich Oesterhelt und Salewski in vier Ecken, alle scheinen nicht zusammenzuspielen. Der Pianist hackt lange immer dieselben kakophonischen Akkorde raus, der Cellist ähnlich, dazu reichlich Elektronik: Ist das neue experimentelle Musik? Aber auch hier: keine Musik, die man auf CD mit nach Hause nehmen kann, sie ist unfertig, hat Freiräume, kann von anderen Künstlern weiterentwickelt werden. Wie das Theater von raum13: kein monolithischer Block, sondern eine offene Dauerparty, raus aus der Guckkastenbühne, mit sich wiederholenden Wellen wie alles hier. Spannend, anregend, nachdenklich machend. Aber auch durchaus recht unterhaltsam.
Zeitspiralfedern Festival | bis 13.10. | Deutzer Zentralwerk der Schönen Künste im Otto-Langen-Quartier | www.raum13.com
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