Eine Viertelstunde dauert es zu Fuß zum Mülheimer Bahnhof am schwülwarmen Freitagabend. Ein riesiger Taubenschwarm sitzt abwartend auf den Stromkabeln im Sonnenuntergang. Erst ist unklar, wo jetzt gleich etwas passieren wird – dieses Theaterstück braucht keinen Bühnenaufbau, es nutzt den Bahnhof und alles Umliegende als Kulisse. Einige Menschen sind auf den neuen gelben Holzmöbeln versammelt, die den Bahnhofsvorplatz aufwerten sollen. Doch wer davon ist Publikum, und wer verbringt hier nur jeden Tag mit Bier, Zigarette und Schwadronieren seinen Feierabend?
An einem kleinen Tischchen meldet man sich an, es musste schließlich zuvor ein Ticket erworben werden. Künstlerischer Leiter Marcus Hasenkopf tritt vor, und eine Zuschauermenge von zirka 30 Leuten kristallisiert sich, aufmerksam und masketragend, aus dem Bühnenbild heraus. Hasenkopf, mit Warnweste bekleidet, gibt im Folgenden den Scheinwerfer-Träger und sorgt für die Verkehrssicherheit. Die Aufgabe für das Publikum lautet: So nah an die Schauspieler herantreten, wie es die Schutzmaßnahmen erlauben – und ihnen immer folgen.
Flucht heute und damals
Die Schauspieler betreten den Vorplatz, das heißt, sie marschieren zu Technomusik aus dem Bahnhofsgebäude und buchstabieren DOROTHEA. Das Goethe-Stück „Hermann und Dorothea – ein Idyll“ aus dem Jahre 1797 ist passend: Nicht nur, dass die Flüchtlingsthematik in unserer Zeit wieder brandaktuell ist (inklusive einer brennenden Unterkunft im Text), sondern auch auf die Begebenheiten des Köln-Mülheimer Bahnhofs scheint die Erzählung zugeschnitten zu sein. Regisseurin Andrea Bleikamp hat sich Untergrundtunnel, Graffiti und umliegenden Gebäude ganz genau angesehen, um immer wieder sinnvolle Szenerien zu finden.
Thomas Krutmann, der abwechselnd Hermann, dessen Vater und den Erzähler spielt, überzeugt an der frischen Luft mit tragender Stimme und klarer Unterscheidung der Charaktere. Er teilt das Publikum, um hindurch zu laufen, winkt, ihm zu folgen, rennt so schnell voran, dass die langsame Masse kaum hinterherkommt. Im Spiel begleitet ihn die Puppenspielerin und -bauerin Marion Bihler-Kerluku, die die Mutter mimt, aber auch die Puppen-Freunde des Vaters bespielt: den Apotheker und den Priester, ganz in Waldorf und Statler-Manier.
Musikalisch untermalt wird das Stück von Doro Bohr, die zusätzlich ihre Namensvetterin Dorothea darstellt, mehr Objekt der Begierde und der Erzählungen als tatsächlich anwesend. Bohr spielt die Gitarre und singt, trommelt und lässt auch mal Schlager über den Lautsprecher ertönen. Mittels Tonabnehmern und Effektgerät entsteht spannende Live-Musik an den Stangen und Holzplatten der gelben Bahnhofsbänke. So weiß man während des altklugen Gesprächs zwischen dem Maske-unter-der-Nase-tragenden Vater und seinen Kumpanen teils gar nicht, ob man jetzt mehr dem Text oder der Geräuschmusik folgen sollte.
Verborgene Winkel entdecken
Weiter geht’s, in den Tunnel der Straßenbahn, in dem praktischerweise gerade zwei Bahnen einrauschen. Die uneingeweihten Passanten starren, schauen mit, nehmen entsetzt und fluchend Reißaus. Zwischen gewollter Provokation und kommunikativer Brechung der vierten Wand machen die Schauspieler auch unbekannte Winkel der Umgebung erfahrbar. Hier geht es in die Tiefe, grünes Licht, scheppernde Techno-Klänge, Verliebtsein.
Krutmann stürzt sich mit dem Kopf voran ins Fremde, als Hermann immer darum bemüht, die Frau für sich zu gewinnen und auch den kritischen Vater zu überzeugen, der die Eingewanderte nicht in der Familie haben will. Treppen emporkraxeln mit Maske, dann gibt es spritzendes Bier und Stoffburger. Die pöbelnden Eltern des Protagonisten wirken mitunter nicht anders als die Gestalten, die sonst in dieser einen Bahnhofsecke herumlungern. Auf dem schwerverliebten Weg seiner Figur lässt sich der Schauspieler fast vom Auto überfahren.
Neugierige Passanten
Das Spektakel zieht in der Spätsommerdämmerung alle Blicke auf sich, selbst aus den Fenstern schauen sie, die neugierigen Menschen. Und die Teilnehmenden schauen zurück. Da ist einer, der die überforderten Tauben mit großen Brotbrocken zu füttern versucht. Im Brauhaus sitzen sie rauchend an den Klapptischen und belächeln das Straßentheater. Klaus, der jeden Tag in der Bahnhofsunterführung sitzt und Gitarre spielt, wird in eine Jam-Session miteinbezogen. Und endlich wird auch klar, woher das rotglänzende Herzchenkonfetti kommt, das seit Tagen auf den Stufen zu Gleis vier und fünf an den Pendler-Schuhsohlen hängenbleibt.
Am fliederbewachsenen, duftenden Ende des Gleises nimmt die optimistische Erzählung ihr glückliches Ende. Die Ansteckherzen der Darstellenden blinken rot. Eine Verknüpfung von Poetik und Stadtraumerkundung bringt einem das eigene Viertel noch einmal näher.
distrikt9: Hermann und Dorothea | R: Andrea Bleikamp | 18., 19., 25., 26.9. je 19 Uhr | Vorplatz Bahnhof Köln-Mülheim | info@babel-koeln.de
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