Ein Mensch. Kein Mensch. Dem Tod final abhanden gekommen oder zum Experiment im Biotop eines seelenlosen Schöpfers verdammt? So lautet die Frage in „Virtual Brain“ von Wehr51. Hier verliert das Leben in einem gnadenlosen Elektronenkrieg der Synapsen auf ganzer Linie. Nicht der Aufbruch zu den Sternen und die Besiedlung anderer Welten ist des Menschen hehrstes Ziel – ewiges Leben lautet die einzig wahre Order, in einer viel zu vergänglichen Welt.
Die rund einstündige Aufführung in der Orangerie ist eine binäre Orgie jenseits des Verstands, deren Faszination man sich kaum zu entziehen vermag, wenngleich sie Risse im Fundament des Gleichgewichts verursacht. Die Texte aus der Feder von Charlotte Fechner sowie Götz Leinweber fokussieren das Sujet von körperlicher und geistiger Optimierung, der Schaffung eines effektiven, doch stets morbiden Ersatzteillagers, bestehend aus Gliedmaßen, Organen sowie Einsen und Nullen.
Im 360-Grad-Dauerbeschuss der analogen wie digitalen Codes, Botschaften und Fragestellungen vor, neben, über und hinter den Köpfen des Publikums verlieren jegliche Strukturen des klassischen Theaters ihre Konturen. Sie verschmelzen zur interstellaren Schleife, in der Sender und Empfänger im blitzenden Stakkato einer außerirdischen Energie kollabieren, um im Schock der Reanimation neu zu entstehen.
Die Bühne erstreckt sich dabei über den gesamten Saal. Das Zuschauen verlangt Schmerzbereitschaft, sowohl hinsichtlich des zeitkritischen Stoffes als auch in Bezug auf die Sitzmöglichkeiten, denn die niedrigen Hocker fordern die Physis. In einer an den Frankenstein-Mythos erinnernden Inszenierung, die zeitgleich in einem igluartigen Zelt kreuz und quer durch den Zuschauerraum und auf einer dem Refugium entgegengesetzten Rampe über die Anwesenden hinweg- sowie hindurchfegt, tauschen Opfer und Täter einer vehementen Einmischung in die Evolution bald ihre Rollen, vereinen Ethik oder Gefühl zur Pein, die erträglich, aber stetig ist und sichtbare wie dunkle Materie zu vertilgen droht.
Das sechsköpfige Ensemble agiert wie eine Maschine, die mehrdimensional in Höhe, Breite, Länge und Raumzeit denkt. Asta Nechajute als Versuchsobjekt, Torsten Peter Schnick als Wissenschaftler, ein von Anna Möbus dargestelltes, der Freiheitsstatue gleichendes lebendiges Computerprogramm sowie die stets userfreundlichen wie verwirrten „Dienstleister“ Miriam Meissner, Marc Fischer und Thomas Krutmann flankieren das Geschehen und interagieren mit den Betrachtern. Unter der Regie von Andrea Bleikamp harmonieren Spiel, Worte, Sound, Kostüme und Licht im Einklang eines beinahe greifbaren Wahns, der verführerisch nach Vanille duftet, doch in hoher Dosis Zyanid in sich trägt. Mit „Virtual Brain“ gelingt die vertrackte Konstruktion einer lockenden Dystopie, deren Tage sich in pulsierendem Schwarzlicht wiegen. Zugleich legt Wehr51 damit ein maßgeschneidertes Modell vor, das sich anschickt, die Realität zu überholen. Atemberaubend.
Virtual Brain | R: Andrea Bleikamp | 18. - 20.11. 20 Uhr, 21.11. 18 Uhr | Orangerie Theater | 0221 952 27 08
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