„Auch Neger seien Menschen“, sagt der Lehrer in einer Schulstunde beschwichtigend – was sofort den linientreuen Vater eines Schülers auf den Plan ruft. Die Schüler seiner Klasse wachsen in einem Klima von Menschenverachtung und Rassenhass auf und sind Teil einer auf Unterordnung und Gehorsam gedrillten Gesellschaft. In einem Osterlager geraten die Konflikte außer Kontrolle und münden in einen Mord. „Jugend ohne Gott“ ist der dritte Roman des Dramatikers Ödön von Horváth. 1937 verfasst, beschreibt er ein System, das unverkennbar die Züge einer faschistischen Diktatur trägt. Der Roman wurde innerhalb eines Jahres in acht Sprachen übersetzt. 1938 setzten ihn die Nationalsozialisten wegen seiner „pazifistischen Tendenzen“ auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“.
choices: Herr Friedel, was ist so schlimm an einer Jugend ohne Gott?
Dominic Friedel: Der Titel von Horváth stimmt eigentlich gar nicht. Es geht nicht um eine Jugend ohne Gott, sondern um einen Lehrer ohne Gott. Und dieser Lehrer meint, dass die jungen Menschen nicht mehr die Werte haben, die ihm wichtig sind. Später kommt er zu der Erkenntnis, dass es noch eine höhere Wahrheit gibt. Und dann fällt ihm plötzlich auf, dass die Schüler gar nicht so sind, wie er sie bisher wahrgenommen hat.
Warum besetzen Sie die Schüler-Figuren bei Horvath mit echten Schülern?
Tun wir nicht. Das ist in der Regel der erste Gedanke bei „Jugend ohne Gott“: Man nimmt zwei erwachsene Schauspieler und eine Schulklasse, die die Schüler des Romans spielen. Das ist vermutlich auch der Ausgangspunkt des Bonner Theaters gewesen. Je mehr ich mich mit dem Roman beschäftige, desto mehr Zweifel habe ich daran. Horváths Roman ist nämlich aus der Wahrnehmung des Lehrers geschrieben, also ein extrem subjektiver Text. Alles, was ich über die Schüler erfahre, nehme ich durch die Brille des Lehrers wahr. Ich hatte bei der Beschäftigung zunehmend das Gefühl, dass das problematisch sein kann.
Was bedeutet das für die Umsetzung des Romans?
Wir müssen versuchen, diese Perspektive durch die Brille des Lehrers reinzukriegen. Wir haben zum Beispiel ausprobiert, was passiert, wenn ein erwachsener Schauspieler alle Schüler zusammen spielt und die Jugendlichen den Lehrer als Chor sprechen. Wir suchen also nach Wegen, dass die Bonner Schüler nicht die Schulklasse spielen, aber trotzdem als Schulklasse wahrnehmbar sind.
Wenn man sich die aktuellen Schülerdemos ansieht, gewinnt man ein anderes Bild der Jugend als bei Horváth.
In den ersten Proben haben wir versucht rauszufinden, welche Themen im Roman die Bonner Schüler beschäftigen. Wir haben über Parallelen des Romans zur Gegenwart gesprochen, wir haben viel über Gott geredet und schließlich über das Verhältnis von Idealismus und Realitätssinn. Ich nehme bei den Bonner Schülern wahr, dass sie mitnichten so sind, wie Horváth sie beschreibt: Der Roman wirft aus der Perspektive des Lehrers den Schülern vor, nur Rädchen im Getriebe sein zu wollen. Unsere Schüler sind im Gegenteil extrem aufgeweckt. Soll ich sie jetzt zwingen, ein paar faschistoide Schüler zu spielen? Oder soll ich ihnen nicht besser eine Plattform geben, damit sie zeigen können, was ihre Interessen sind, was sie bewegt? Im Roman denken die Schüler in ihrem Club für Gerechtigkeit und Wahrheit darüber nach, wie die Welt sein sollte. Das könnte man aufmachen für die Gedanken der Bonner Schüler und deren Perspektive auf unsere Welt heute.
Die Schüler im Roman werden vom Lehrer nur mit Initialen bezeichnet, also schon in der Beschreibung ihrer Individualität beraubt.
Es ist fast ein Nicht-Verhältnis. Mein Gefühl beim Lesen war, dass der Lehrer die Schüler nicht so wahrnimmt, wie sie sind. Er behauptet, sie seien alle gleich und abgestumpft und denken nur an den Krieg. Wenn es später im Roman um das Tagebuch eines Schülers geht, wird deutlich, dass sie sich sehr wohl über andere Dinge Gedanken machen. Der Lehrer nimmt die Wirklichkeit um sich herum gar nicht wahr. Er steckt selbst in einem Gewissenskonflikt.
In welcher Zeit spielt der Roman?
Wenn ich weiß, in welcher Situation Horváth das geschrieben hat, kann ich das vor der Folie der NS-Diktatur lesen. Muss man aber nicht. Horváth hat selbst in einem Brief geschrieben, er habe in der Figur des Lehrers den faschistischen Menschen oder, wie er dann präzisiert, den Menschen im faschistischen Staat beschrieben. Ich glaube, es geht eher allgemein um einen Menschen, der an der herrschenden Ideologie zweifelt.
Was bedeutet das für Horváths Intention, den Roman zu schreiben?
Eigentlich ist Horváths Ruf als antifaschistischer Autor zementiert. Nachdem Horváth in seinen Stücken sich sehr kritisch mit den Nationalsozialisten auseinandergesetzt hat, wäre zu erwarten gewesen, dass er in den Widerstand geht. Ist aber nicht passiert. Horváth hat von 1932 bis 36 versucht, in Deutschland zu arbeiten. Er schrieb einen anbiedernden Brief, um in die Reichschrifttumskammer aufgenommen zu werden, verfasste unter Pseudonym schlechte Filmdrehbücher. Vielleicht ist der Roman der Versuch, sich freizuschreiben. Eine Art moralischer Befreiungsschlag.
Ist der Lehrer dann ein Alter Ego Horváths?
Es stellt sich die Frage, wie viel Horváth eigentlich in dem Lehrer steckt. Geht es da wirklich um die Jugend im Dritten Reich, wie immer wieder in Lektürehilfen behauptet wird? Oder beschreibt der Roman den ganz persönlichen moralischen Konflikt des Autors? Was der Lehrer sich vorwirft, sind schließlich auch Dinge, die sich Horváth vorgeworfen hat.
„Jugend ohne Gott“ | R: Dominic Friedel | 27.4.(P), 2., 15., 25., 27.5. 19.30 Uhr | Theater Bonn | www.theater-bonn.de
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