Das Intro – der Vorfilm – gänzlich ohne Menschen – stattdessen mit gähnend leeren Stühlen vor den verschiedensten Bühnen spricht für sich. Die Musik wehmütig-schräg wie die Situation eben. Der Zuschauer möchte vielleicht abdriften – in eine fiktive Welt. Aber er ist gefangen vor dem Bildschirm. Denn das – diese eine Sequenz, dieser Knopfdruck – ist das einzige, was ihm an ihn noch mit der Kultur verbindet. Was folgt, ist keine theatralische Fiktion, auch noch immer keine Jubiläumsfeier für das Impulse Theater Festival, sondern eine Buchpräsentation und ein offenes Gespräch mit dem Titel „Und jetzt? Lernen aus dem Lockdown“, moderiert von Impulse-Leiter Haiko Pfost. Die Frage, die über dem Geschehen kreist, lautet: Wie geht es weiter mit einem Theater, das nun mal von Publikum, Berührungen, Interaktionen und gemeinsamen Erfahrungen zu leben pflegte?
Das Edne 2020 erschienene Buch mit dem Untertitel „Nachdenken über Freies Theater“ ist eine Sammlung an Beiträgen von 30 freien Theaterschaffenden und Kulturpolitikern über ihre aus der Corona-Krise gewonnenen Einsichten.
Impulse nahm in Zusammenarbeit mit zeitraumexit Mannheim die offenbar steigende Nachfrage an Austausch in Angriff. Es war die dritte und nunmehr letzte Veranstaltung der zeitraumexit-Reihe namens „BodySpeaks warm up.“ Umsonst und im Internet.
Widerspruch zwischen Nähe und Distanz
Mit an diesem Abend dabei – die Künstlerin und Leiterin des Forschungs-Theater-Programmes „Fundus“ in Hamburg, Sybille Peters, studierte Literaturwissenschaftlerin und einstige Philosophiestudentin. Ferner die Professorin für Tanztheorie und Darstellende Kunst, Dr. Katja Schneider von der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt a.M. (HfMDK) sowie die politische Tänzerin und Choreografin Teresa Vittucci, die u.a. mit ihrer Performance „Hate Me, Tender: Solo for Feministic Futurism“ ihre körperliche Kunst humorvoll angehaucht zum Ausdruck bringt und und an diesem Abend in Ausschnitten bringen sollte – das auch das wurde Corona-bedingt verschoben.
Die Themen des Abends: körperliche Berührung, soziale Distanz und Nähe. Ein Widerspruch – kann doch in Zeiten wie diesen durch die Entfernung nicht wirklich Intimität aufgebaut werden. Das Internet kann nun mal das Körperliche nicht ersetzen. Darin sind sich alle Anwesenden einig. Die in Wien geborene Vittucci erwähnt in diesem Kontext eine doppelte Präsenz: einmal die im realen Raum, zum anderen jene neue, virtuelle Rolle im Internet, wo man seit der Krise ständig etwas nachschlagen, sich orientieren, sich einloggen müsse, sich in sozialen Netzen aufhielte.
Fehlender Fremd-Schweiß und kollektive Angst
Beinahe alle Anwesenden sagen, sie würden vermissen, Teil einer Menge zu sein. Manchen fehlt schlicht der Beruf. SybillePeters vermisst die Zufälligkeit an Berührungen. Kontrollierte, geplante gäbe es zwar, aber keine beliebigen. Tänzerin Vittucci gibt zu, sich nach dem Gefühl zu sehnen, Fremde zu umarmen, den Schweiß der anderen einzuatmen. Gleichzeitig befinde sie sich, die derzeit in Zürich lebt, aber in einem moralischen Zwiespalt, sollen doch in der Schweiz die Pforten zu den Bühnen der Welt alsbald wieder öffnen, was bei ihr auf der anderen Seite Gewissensbisse hervorrufe. Ferner spricht die Choreografin von einem Gruppen-Trauma nach und bereits in dieser Zeit, in der alltägliche Begegnungen mit anderen Menschen zur ständigen Gefahr würden. Vittucci erwähnt eine kollektive Angst vor jeder anderen Person, die ständige Bedrohung eines Körpers durch seine pure Anwesenheit. Eine Furcht, die schon immer in Form von Verwundbarkeit existiert habe, aber nun für manche erneut aufflackere und zu Triggern führen könne – zur Retraumatisierung.
Vittucci habe aus dieser gesellschaftlichen aber auch stark psychologischen Krise die Konsequenz gezogen, sich neben ihrer feministischen Darstellungs-Kunst auch vermehrt therapeutischen Fragen zu widmen, Berührungstherapeutische Ansätze – wenn auch derzeit aus der Entfernung – zu entwickeln. Denn die Wunde, die aufklaffe, werde groß sein.
Orgastische Fake-Kämmbarkeit
Frage: Gibt es bei aller Depression und trotz kollektiver Angst nach einem Jahr der Pandemie auch Positives – Dinge, die aus der Verlegung ins WWW auch für das Theater gezogen werden können? Und die über den häufig sehr brav anmutenden Auftritt des Theaters im Internet hinausgehen?, wie Haiko Pfost es formuliert.
Im Folgenden erwähnen die Anwesenden kleine Aha-Erlebnisse. Wenn man sich etwa vorstelle, in diesem einen Moment würde Schauspieler, Tänzer, Zuschauer oder Bekannter XY Ähnliches tun wie man selber, könne man eine Art digitales Gruppen-Wohlfühlgefühl im Kopf feststellen. Ein weltweiter Online-Glückshormon-Rausch sozusagen. Die ersten Knospen sprießen offenbar auch im Netz.
Auf den Punkt gebracht: Wo bleibt der Rausch in rauschlosen Zeiten? Vittucci erwähnt in diesem Zusammenhang sogenanntes ASMR („Autonomous Sensory Meridian Response“) als möglichen Rausch- bzw. Orgasmus-Ersatz – ein virtuelles, ursprünglich aus dem amerikanischen Raum stammendes Phänomen, das in Zeiten von COVID-19 noch mehr boome, so die Tänzerin und angehende Berührungstherapeutin. Ein Online-Trend, bei dem eine vorgetäuschte Berührung – etwa via eines Online-Friseurtermins im Internet durchgeführt wird. Meist handelt es sich dabei um nebensächliche und eher beruhigende Tätigkeiten. Die Person im Internet – die oder der Möchtegern-Friseur(in) – flüstert oder säuselt dabei virtuell etwas in die verschiedenen Sinnesorgane des Online-Betrachters hinein. Föne blasen in Kameras. Beim virtuellen Glücks-Haarschnitt knistert und kratzt es, was bei manchen ein wohliges Gefühl, ein Kopfkribbeln, erzeugen kann. Manchmal kann dieser Kämm-Effekt auch zu neuronalen Orgasmen führen, so Vittucci, nicht jedoch bei allen Menschen. Auch online ticken sie unterschiedlich.
Die studierte Theaterwissenschaftlerin Katja Schneider, die auch als Tanzpädagogin arbeitet, spricht indessen von einer zuversichtlich stimmenden Anpassungsfähigkeit des Menschen auch in digitalen Räumen. Den Prozess werde sie jedenfalls beobachten.
Eines wünschen sich sicherlich viele: Dass Corona und der nunmehr über einjährige anhaltende Lockdown für die Kunst- und Theaterszene bald hoffentlich vorbei sein werden. Sollte es nicht so sein, lassen sich zumindest erste Erkenntnisse im WWW erfühlen und erfönen.
Lernen aus dem Lockdown? Nachdenken über Freies Theater, Hrsg. Haiko Pfost, Wilma Renfordt und Falk Schreiber | Alexander Verlag | 232 S. | 14 €
Impulse Theater Festival | 2. - 13.6. | Köln, Düsseldorf, Mülheim an der Ruhr + online | www.impulsefestival.de
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