Man könnte meinen, es handele sich um einen Zombie-Film, sieht man doch in letzter Zeit häufig müde Eltern mit Ringen unter den Augen. Mütter und Väter, die versuchen, den Spagat zwischen Arbeit, Haushalt und Kinderbetreuung mit zusätzlichen Aufgaben zu schaffen. Und – nein, es sind nicht die 50er Jahre ohne Emanzipation. Es ist das Jahr 2021. Der Grund: staatlich auferlegtes Lehrersein. Konferenzen am Sonntag, die kurz vorher angekündigt werden. Materialübergaben. Hausaufgaben. iPads werden über Nacht erwartet, da nicht jede Schule eines stellen kann. Daneben teilweise bleiche Kinder. Solche aus bildungsstarken und finanziell gepolsterten Familien mögen das vielleicht vertragen, wenngleich auch nicht alle. Andere drohen sozial und schulisch abzustürzen.
Die Kölnerin Elcino Öztürk ist Personal Coach und alleinerziehende Mutter, die arbeiten muss, um die Miete und Kosten zahlen zu können. Was bleibt der 39-jährigen Ernährungsberaterin übrig, als zu funktionieren, um nicht mit ihren drei Kindern auf der Straße zu landen?
„Ich mich manchmal hundemüde“
Elly Öztürk: „Man muss ja damit klarkommen. Klar fühle ich mich manchmal hundemüde, aber ich lasse es einfach nicht zu. Täglich sind es vier bis sechs Stunden, die ich mit den Kindern alleine schulisch zu tun habe. Zusätzlich zu meiner Arbeit. Ich bin komplett alleine, bekomme keine Unterstützung. Also muss ich funktionieren. Klar habe auch ich Down-Phasen. Dann zieh ich mich mal zurück und spiele ein bisschen Gitarre oder treibe ein wenig Sport.“
Daneben zum Teil ebenfalls an Zombies erinnernde blasse Kinder mit wenig Muskulatur. Manche wirken zufrieden. Andere sehr traurig, sehen sie doch wenig bis keine Freunde, spielen und bewegen sich selten. Wieder andere erscheinen hibbelig oder kämpfen mit Wutanfällen.
Auch Elly Öztürk stellt Veränderungen bei ihren zwei Töchtern und ihrem Sohn im Alter von 6, 12 und 14 fest. „Die Maßnahmen machen schon etwas mit uns. Wir sind alle nur Menschen. Ich bemerke das auch an den Kindern. Gut haben diese es nicht überwunden. Nur langsam. Dann ist der Älteste in der Pubertät. Es zieht sich durch alle Ebenen. Ich versuche so positiv wie möglich zu bleiben, damit sie es guthaben, stecke dafür aber mein Privatleben total zurück. Was ich bei den Kindern allgemein nicht gut finde, ist, dass sie wenig Sport treiben.“
Natürlich ticken auch Kinder unterschiedlich. Manche, die in der Schule gemobbt wurden, wie Ellys Tochter, können profitieren. C. (6): „Mir geht es noch halbwegs gut. Im Kindergarten ging es mir besser. Da hatte ich viele Freunde. In der Schule hat mich schon mal jemand geärgert. Das war auch nicht schön.“ Der Älteste, Pubertierende möchte hingegen nichts sagen, schließlich steckt er in der Reifezeit. Die Tür seines Zimmers geht wieder zu.
„Jetzt habe ich das ganze Geld für Technik ausgegeben“
Am meisten regt die Ernährungsberaterin der technische Schwerpunkt und die schlechte Kommunikation in Deutschland auf. Elly Öztürk: „Ich finde, sie könnten den Eltern, die zuhause Lehrer spielen müssen, mehr entgegenkommen. Man ist nicht vorbereitet. Bei mir musste zum Beispiel erstmal ein IT-ler kommen, und das Ganze über Nacht. Deshalb musste ich für 160 Euro einen Verstärker holen, weil es nicht überall W-LAN gab. Jetzt habe ich das ganze Geld für Technik ausgegeben. Der Tonfall ist – kommen Sie klar damit! Es mangelt an Kommunikation. Stattdessen gibt es nur Ansage. Dazu zweimal in der Woche Materialübergabe zu Zeitpunkten, zu denen ich aber manchmal keine habe, weil ich da arbeite. Zudem habe ich Kunden via Online-Coaching und kann nicht immer meinen Kindern mein Gerät zum gleichen Zeitpunkt geben.“
In Deutschland scheint es so, als hätten die, die über gute Voraussetzungen verfügen, gewonnen. Ist das gerecht? So gut es Ellys Kindern trotz Krise und technischen Problemen geht, geht es längst nicht allen. Und das auch nur, weil ihre Mutter im Akkord arbeitet.
Dr. Nicole Bruning leitet als Kinder- und Jugendtherapeutin die psychische Ambulanz für Kinder und Jugendliche (KiJu) an der Uni Köln. Sie bemerkt einen Wandel an dem Benehmen und Gefühlsleben der Kinder in Krisenzeiten, hat vermehrt mit psychischen Erkrankungen wie Depressionen zu tun.
„Manchen Jugendlichen hingegen fehlt jegliche Perspektive“
Nicole Bruning: „Die offene Sprechstunde ist bei uns immer gut gefüllt. Kürzlich hatten wir sogar zwei suzidale Fälle bei Kindern, die wir in die Psychatrie überweisen mussten. Bei Schulkindern ist eine Zunahme von Traurigkeit zu beobachten. Kinder und Jugendliche ticken aber unterschiedlich. Manche kommen ganz gut klar. Bei anderen nimmt die Antriebslosigkeit zu. Manchen Jugendlichen hingegen fehlt jegliche Perspektive. Sie leiden an Zukunftsängsten. Bei Kindern mit Angststörungen und Waschzwängen wird die Angst in der Krise noch größer. Generell kann man sagen, dass die Probleme, die es vorher gab, zunehmen.“
Beinahe einem Experiment gleich wurden über Nacht Eltern zu Lehrern gemacht, ohne zu prüfen, ob jeder dies kann oder möchte, und ohne Berücksichtigung des sozialen Umfelds und psychischer Vorbelastungen in Familien. Spaltet sich die Gesellschaft in neue Gewinner und Verlierer? Hin zur Privatisierung?
Dr. Nicole Bruning: „Kinder mit wenig Bildung ziehen einen klaren Nachteil aus der Situation. Manche Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien erleben gar nichts Positives mehr. Sowie auch solche, bei denen die Eltern psychische Vorbelastungen haben und jene mit eigenen psychischen Vorerkrankungen. Sowie bei Familien, in denen es zu Gewalt kommt. Daneben Alleinerziehende, Menschen mit Migrationshintergrund und viele mehr.“
„Bei Kindern helfen klare Strukturen“
Noch sind die psychosozialen Folgeschäden ungeklärt. Während Gesundheit in der Pandemie natürlich im Vordergrund steht, wird über die psychische Dimension und mögliche Folgen wie Burnouts wenig gesprochen. Gesund aus der Krise direkt in die nächste Psycho-Krise? Was könnte eine Lösung sein? Welche Tipps kann man traurigen Kindern geben?
Dr. Nicole Bruning: „Bei Kindern helfen ganz klare Strukturen, und trotz Krise ab und zu einen Freund sehen.“
Und gesellschaftlich? Ist es im emanzipatorischen Sinne nicht sogar ein Auftrag, sich ein wenig gegen die nie endende Schule zuhause und zurück zum Herd zu wehren? Könnte die Politik mehr von der Problematik auffangen?
Äußert man Kritik in den sozialen Medien, heißt es häufig „Mi mi mi, unsere Großeltern hatten ganz andere Probleme, reißt euch mal zusammen“, sagt Claudia W., Mutter einer Tochter. Ist Zusammenreißen das neue Credo?
Seit dem 22. Februar verbessert sich die Lage durch den abwechselnden Distanz- und Schulunterricht in Form von Wechselunterricht. Viele Eltern werden jedoch weiterhin gestresst sein und, trotz Beruf, an bestimmten Tagen zuhause bleiben müssen. Eines wünschst sich sicherlich jedes Kind und jeder Erwachsene: kein Covid mehr. Hoffen wir, dass es so kommt.
Wer sich in der Krise schlechtfühlt, findet Hilfe: Die Nummer gegen Kummer – das Kinder- und Jugendtelefon: 0221 116 111 | www.nummergegenkummer.de || Sekretariat der Psych. Kinderjugendhochschulambulanz der Uniklinik Köln (Mo-Fr 9-12 Uhr): 0221 470 49 35 || KiJu Psychotherapie Ambulanz der Uniklinik Köln | kijuhochschulambulanz.uni-koeln.de/spezialambulanzen
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