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Lothar Kittstein
Foto: Sandra Then

Von Hexen und Reptiloiden

27. Oktober 2021

Lothar Kittstein gibt Einblicke in „Angst“ – Premiere 11/21

Angst ist ein Gefühl, das evolutionär sehr weit zurückreicht und das bis heute jeder kennt. Die Ursachen können politisch, ökonomisch, sozial oder auch privat sein. Gerade die Corona-Pandemie hat die Ängste nochmals potenziert. Regisseur Volker Lösch und die Autoren Lothar Kittstein und Ulrich Schmidt erzählen in ihrem Stück „Angst“ eine Geschichte aus der Zeit der Hexenverfolgung in Rheinbach bei Bonn mit erstaunlichen Parallelen zur heutigen Zeit. Ein Gespräch mit dem Autor Lothar Kittstein.

choices: Herr Kittstein, was macht die Angst derzeit zu einem beherrschenden Gefühl?

Lothar Kittstein: Für mich persönlich, aber auch für unser Projekt hat die Angst ganz konkret etwas mit dieser Corona-Zeit zu tun. Also ein Gefühl von Isolation auf der einen Seite und zunehmender Fragmentierung von Gesellschaft auf der anderen Seite. Im Bekanntenkreis verbreiten sich plötzlich Verschwörungstheorien und man weiß nicht mehr, auf welche Menschen man sich noch verlassen kann. Diese sehr konkrete durch Corona bedingte Krisenangst setzt auf einer größeren Angst auf, die mich seit 2001 umtreibt. Nämlich: Wie kann eine westlich freiheitliche Gesellschaft überhaupt auf eine nachhaltige Weise weiter existieren?

Kann man diese Angst mit einem Verlust an Vertrauen beschreiben?

Ich will das nicht übertreiben, man läuft jetzt nicht plötzlich angsterfüllt zum Supermarkt. Aber ich bin nach vielen Gesprächen vorsichtig geworden, wenn ich scheinbare Selbstverständlichkeiten anspreche, wie zum Beispiel, dass man sich impfen lassen sollte. Die Gespräche werden dann oft sehr schnell emotional, ohne dass man es dabei schon mit Corona-Leugnern zu tun hätte. Zugleich merkt man selbst, wie man von Themen verunsichert ist. Vieles in unserem Leben basiert letztlich auf nichts anderem als auf Glaubenssätzen.

Aber sind gesellschaftliche Auseinandersetzungen nicht schon immer hochemotional geführt worden: Wiederbewaffnung, Abtreibung, RAF, Friedensdemos usw. Brauchen wir inzwischen Trigger-Warnungen vor politischen Diskussionen?

Wahrscheinlich ist das ein Symptom einer einzigartigen Verwöhntheit, dass wir als links-intellektuelle Menschen auf die Suggestion dieser bundesdeutschen Wohlstandsgesellschaft der letzten zwanzig Jahre hereingefallen sind. Natürlich ist diese Gesellschaft durchzogen von Widersprüchen und Antagonismen und es gab sicherlich emotional weit aufgewühltere Zeiten, wie die 1920er oder die 1970er Jahre. Nichtsdestotrotz lässt die Corona-Pandemie Bruchlinien hervortreten, die zeigen, dass unsere Gesellschaft nur als Einheit von Widersprüchlichkeiten zu denken ist. Der Mord an einem Tankwart in Idar-Oberstein demonstriert, dass diese Widersprüche auch tödliche Dimensionen annehmen können. Da gehört für uns im Stück natürlich das Thema rechte Gewalt dazu. Wir haben Glück, dass aus der Querdenker-Szene bisher wenig passiert ist.

Welche Parallelen sehen Sie zwischen heute und der Zeit in Bonn um 1630, also des Dreißigjährigen Krieges, auf die Sie in der Ankündigung hinweisen?

Mal abgesehen davon, dass historische Vergleiche immer hinken, ist es eine erstaunlich ähnliche Situation. Angefangen mit materiellen Auseinandersetzungen im Krieg, der mit Konfessionskonflikten zu tun hatte. In der Region begannen damals die Hexenverfolgungen und wuchsen sich zur Pandemie aus. Es kam zu Bevölkerungsbewegungen und grassierenden Ängsten vor marodierenden fremden Heeren oder auch Flüchtlingen. Die Menschen erlebten den Klimawandel in Gestalt einer kleinen Eiszeit, die zu jahrzehntelangen Missernten führte. Zudem sorgte die Auseinandersetzung der christlichen Welt mit der islamischen Welt für Verunsicherung.

Wie bringen Sie diese historische Ebene ins Spiel mit ein?

Wir verfolgen anhand von ein paar Figuren exemplarisch die Geschichte der Hexenverfolgung in Rheinbach im 17. Jahrhundert, von der Anklageerhebung bis zum Prozess. Diese Vorgänge haben wir mithilfe wiedererkennbarer Figuren zu einer linearen Handlung verdichtet und konzentriert. Die Figuren verwandeln sich allerdings zwischendurch immer wieder in archetypische Vertreter heutiger Protestbewegungen – von der linksalternativen Impfgegnerin bis zum Nazi-Terroristen der Prägung Anders Breivik. Einerseits versuchen wir damit die Logik dieser Feind-Erklärungen offenzulegen, also der vermeintlichen Erkenntnis und dem daraus erwachsenden Freiheitsgefühl, dass die Wurzel all meiner Probleme in diesem Feind liegt. Andererseits springt der Abend zwischen den beiden zeitlichen Ebenen hin und her, sodass man nicht sicher sein kann, ob das ein Albtraum des 17. Jahrhunderts ist, das sich in unsere Gegenwart vorausträumt – oder eher ein Albtraum unserer Gegenwart, in der sich Figuren sehnsüchtig oder schaudernd zurückträumen. Beides verschränkt sich und wird im besten Fall zu einem merkwürdigen Zeithybrid.

Werden Sie auch historische Texte einbinden?

Es gibt ein ganz ergreifendes Buch von einem Unternehmer namens Hermann Löher. Ein einfacher Bürger, der an den Hexenprozessen mitgewirkt hat, dann aber selbst angeklagt worden ist. Er ist nach Amsterdam geflüchtet und hat sich dort eine Existenz als Kaufmann aufgebaut. Im Alter von 80 Jahren verfasste er ein Buch mit dem Titel „Hochnötige unterthanige wemütige Klage der frommen Unschültigen“ über seine Erlebnisse in Rheinbach. Er beschreibt darin, wie er selbst in dieses Räderwerk gezwungen wurde und beobachten musste, wie Kollegen und Freunde gefoltert wurden. Dass er selbst Mittäter war, verdrängt er ein wenig.

Verschwörungstheorien gab es damals wie heute und sie breiten sich weiter aus. Gilt das auch für die Angst? Ist dieses Gefühl selbst infektiös?

Die Hexen hat man sich damals nicht als Einzelwesen, sondern als Sekte vorgestellt, die Europa planmäßig unterwandern will. Ein bisschen wie die Reptiloiden, die man heute hinter den Politikern vermutet. Diese Verschwörungstheorien sind seit dem 16. Jahrhundert wellenartig durch Deutschland gelaufen und haben sich massenmedial mittels Flugschriften verbreitet. Das hatte durchaus etwas Infektiöses. Diese Mechanismen und die sich ausbreitenden Erklärungsmuster wirken überraschend aktuell und erinnern an den Beginn von Corona.

Ist unser zivilisatorischer Fortschritt also letztlich nur eingebildet?

Es gibt einen großen Unterschied vom 17. Jahrhundert zu heute, auf den wir in den Quellen immer wieder gestoßen sind. Die Herrschenden wussten damals, dass sie weder das Geld noch die technischen und organisatorischen Ressourcen hatten, um dieser unglaublichen Hexen-Pandemie Herr zu werden. Teilweise nahm das Züge einer Revolution von unten an, vor der die Obrigkeit Angst bekam. Also beschloss man eine Hexen-Prozessordnung und eine Kosten-Ordnung, um das in geregelte Bahnen zu lenken. Allerdings fürchtete man sich davor, das zu drucken. Der frühmoderne Staat hat auch aus einer Panik reagiert, dieser seuchenartigen Verbreitung des Hexenwahns nicht Paroli bieten zu können. Aber vielleicht gibt es auch dazu eine Parallele, wenn man an die Überlastung und mangelnde Digitalisierung der Gesundheitsämter denkt. Diese Erfahrung, dass plötzlich etwas nicht funktioniert, auf das man sich verlassen hat, ist für die Erfahrung der Regierenden damals und heute ganz fundamental. Wir waren und bleiben verwundbar.

 Angst | R: Volker Lösch | 6., 10., 23.11. 19.30 Uhr | Schauspiel Bonn | 0228 77 80 08 

Interview: Hans-Christoph Zimmermann

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