Alles ist nur Erinnerung. Und die ist bekanntlich trügerisch, weil sie fortlaufend reformuliert wird. Nicht nur der Unfall, bei dem Bianca und ihr Bruder im zarten Teenageralter ihre Eltern verlieren, auch die anschließende Coming-of-Age-Geschichte, die Roberto Bolaño in seinem „Lumpenroman“ beschreibt, wird von den drei Darstellern in unterschiedlichen Versionen aus der Vergangenheit hervorgezerrt. Es ist ein Alltag zwischen Jobs in Friseursalon und Fitnessstudio, Couchpotato und Pornos. Regisseurin Anna Tenti hat das Duo mit einem Trio besetzt: Kristin Steffen, David Kösters und Nicolaus Lehni. Auch wenn hier ein Bild des prekären Lebens mit Momenten der Abstumpfung, Langeweile, aber auch der Geschwisterliebe gemalt wird, geht es nicht um eine Sozialstudie.
Während die Schwester Bianca sich eine ironische Indolenz zulegt, versucht ihr Bruder sich Männlichkeit anzutrainieren. Dafür werden Pferd, Kasten, Matten wie in der Schule hereingeschleppt. Der Bruder quält sich redlich, doch Erwachsenwerden ist kein Bodybuilding. Als er schließlich einen Bologneser und einen Nordafrikaner anschleppt, schläft Bianca emotionslos mit den beiden, genauso wie später mit dem blinden Maciste, der von den Jungen überfallen werden soll. In Bolaños Fantasie vom weiblichen Coming-of-Age durch Selbstprostitution steckt viel männliche Fantasie, was Regisseurin Anna Tenti durch ihre dialektische Inszenierungsweise unterläuft. Biancas verbal bekundete Unberührtheit wird durch körperliche Bedrohungsszenarien konterkariert. Es ist diese inszenatorische Doppelbödigkeit zusammen mit Kristin Steffens überzeugender Mischung aus Jugendlichkeit und Abgeklärtheit, die diesen Abend so überzeugend macht.
„Lumpenroman“ | R: Anna Tenti | 1., 5., 15.2. je 20 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 212 84 00
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