Regisseur Simon Solberg ist bekannt für Inszenierungen mit hoher theatralischer Sinnlichkeit und Sinn für Action. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er das nordische Roadmovie „Peer Gynt“ inszenieren würde. Autor Henrik Ibsen jagt darin seinen gleichnamigen Titelhelden – immer auf der Suche nach sich selbst – durch mythische Abgründe, pittoreske Länder und gefährliche Situationen. Ein Gespräch über ein prekäres Leben und die Suche nach Anerkennung.
choices: Herr Solberg, Peer Gynt ist ein Hochstapler, ein Kapitalist, ein Sklavenhalter – was ist so attraktiv an der Hauptfigur von Ibsens Drama?
Simon Solberg:Was Sie erwähnen, beschreibt erst mal die negative Oberfläche dieser Figur. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass er eigentlich aus prekären Verhältnissen kommt. Er stammt aus einem kleinen Dorf irgendwo in Norwegen, sein Vater war Alkoholiker, seine Mutter mit der Erziehung überfordert und las ihm in Kindertagen Märchen vor. So hat sich Peer Gynt immer wieder in Welten geträumt, wo es fröhlich und schön zugeht. Die Familie Gynt war früher durchaus reich und auf Peer lastet jetzt der Druck, dass er doch eigentlich alles sein könnte. Mit dieser Erwartungshaltung der Eltern startet er ins Leben, trifft aber im Dorf auf das komplette Gegenteil: Dort ist er das Kind eines Alkoholikers und einer Geisteskranken. Dieses Gefühl, nicht zu genügen, lässt ihn schließlich Geschichten erzählen, was ihm passiert sein könnte und was er alles noch werden wird. Und in diese Geschichten verstrickt er sich im Verlaufe des Abends immer weiter.
So wie Sie es jetzt erzählt haben, stellt sich sofort die Frage: Ist Peer Gynts Reise, die ja einer Weltreise ähnelt, letztlich eine Phantasie-Reise oder findet sie real statt?
Genau diese Frage müssen wir uns am Ende tatsächlich stellen – ist das alles so passiert, oder saß er die ganze Zeit über nur in einem Wald-Häuschen und hat sich das alles erträumt? Das ist ein bisschen wie bei „Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger“.
Wo liegen die Parallelen zwischen Peers Suche und unserem Leben heute?
Peers Werdegang, dass er also erst zum Kapitalisten wird, später zum Sektenführer, und dann versucht, sich viel Wissen anzueignen. Dahinter steckt eine gewaltige Suche nach Anerkennung und Sinn im Leben, aus einem Gefühl des Defizits heraus. Er hat das Gefühl, dass das, was er mitbringt, nicht reicht. Das ist eine Situation, finde ich, der wir in unserem Alltag derzeit auch ausgesetzt sind.Der Soziologe Heinz Bude beschreibt in seinem Buch „Gesellschaft der Angst“, dass unsere Gesellschaft darauf fußt, dass wir den größten Teil an Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Einkommen ein paar wenigen Gewinnern geben. Im Umkehrschluss heißt das, dass der Großteil der Gesellschaft aus „Verlierern“ besteht, die aufgrund der fehlenden Wertschätzung ständig das Gefühl haben, nicht zu genügen.Ganz elementar finde ich darüber hinaus, dass Peer ein unglaublich toller Geschichtenerzähler ist. Das ist zum einen etwas, was wir am Theater ständig tun und zum anderen etwas, was uns als Menschen ausmacht. Denn folgt man der Auffassung von Yuval Harari, so sind wir die einzige Spezies, die mittels Geschichtenerzählen wie zum Beispiel der vom Nationalstaat, vom Geld, von den Menschenrechten, Verabredungen treffen, an die wir gemeinschaftlich glauben und die uns ein Zusammenleben erst ermöglichen.
Das Dilemma ist dabei, dass das Geschichtenerzählen auch ein Grundbaustein des Kapitalismus ist, also zum Beispiel der Vision der totalen Naturbeherrschung oder des Warenfetischismus.
Genau, der Kapitalismus ist selbst nur ein Narrativ, das uns sehr lange als Vision erzählt wurde. Wir können nun entscheiden, ob wir dieser Geschichte weiter folgen oder die Geschichte unseres Zusammenlebens ganz anders erzählen wollen. Unsere Freiheit liegt darin zu entscheiden, welcher Geschichte wir für eine bessere Zukunft glauben wollen. Also wollen wir an die Menschenrechte und Solidarität glauben? Oder glauben wir an ein System des Wettkampfs und der Ausgrenzung? Peer Gynt fällt genau diesem Narrativ zum Opfer.
„Peer Gynt“ ist auch voller mythischer Anspiele – wofür steht die von Ihnen schon erwähnte Ebene der Trolle, denen Peer begegnet?
Die Trolle stehen für das Dunkle in uns. Das können Triebe sein, das kann Gewalt und Sexualität, das kann auch Traurigkeit sein. Es sind die starken Emotionen, die uns als Menschen auch ausmachen. Wenn wir versuchen, diese Seite in uns zu negieren, wird sie irgendwann ausbrechen und überhandnehmen. Uns wird von Kindesbeinen antrainiert, dass diese Triebe im Alltag nichts zu suchen haben. Aber ich glaube, dass wir diese dunklen Seiten in uns auch anerkennen müssen.
Wenn man „Peer Gynt“ liest, ist man überrascht, dass der Autor von „Nora“ und von „Hedda Gabler“ in Solveig eine Frauenfigur porträtiert, die brav die ganze Zeit auf Peer wartet. Wie gehen Sie damit um?
Das ist ein spannender Punkt. Eigentlich befinden sich Peer und Solveig, wenn sie sich begegnen, sofort auf einer Wellenlänge, auch weil sie beide die Außenseiter im Dorf sind. Für uns ist wichtig, dass Solveig für sich selbst beschließt, nicht in der dörflichen Gemeinschaft zu bleiben und sich in den Wald zurückzuziehen – weil man hier frei ist, wie sie sagt. Peer ist zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht so weit, denn Solveig geht diesen mutigen Schritt bereits in der Mitte des Stücks. Wir haben das Schmachtende der Figur komplett rausgenommen, aber das bewusst Wartende drin gelassen. Das Warten allein im Wald macht sie zu einer eigenständigen, mutigen Frau, die in ihren Entscheidungen Peer voraus war.
Das sind zwei unterschiedliche bürgerliche Identitätskonzepte: Solveig als diejenige, die sich abseits der Gesellschaft in die Natur zurückzieht und sich selbst folgt. Und Peer, der sich als Reisender in die Gesellschaft stürzt, um sich selbst zu finden.
Das ist eine spannende Frage, weil wir uns als Gesellschaft gerade genau die gleiche Frage stellen müssen. Also würde es helfen, wenn wir alle uns dem System entziehen und in unseren Bubbles leben? Der Gegenentwurf wäre, sich komplett ins System hineinstürzen. Das sind beides Extreme. Ich glaube, der Rückzug in den Wald ist eher als Metapher zu verstehen, dass ich mich von den Abhängigkeiten löse, die mir mein Umfeld überstülpen will. Wenn Solveig in den Wald geht, nimmt sie sich aus Abhängigkeiten und der Überforderung heraus und schaut in Ruhe auf die Situation und auf Peer.
Peer gilt eigentlich als der große Identitätssucher, der am Ende Identität als Zwiebel beschreibt mit unterschiedlichen Schalen und Schichten, aber ohne Kern.
Sucht er denn wirklich seine Identität? Oder sucht er nicht letztlich nach Anerkennung? Das Thema der ganzen Märchengeschichten ist, dass angeblich jeder es schaffen kann. Auch der Vater soll ihm gesagt haben, aus dir, Peer, wird einmal etwas Großes werden. Er läuft die ganze Zeit diesem Narrativ hinterher und sucht überall Anerkennung. Erst wenn ich dann König bin, wenn ich genug Wissen erlangt habe, so sagen diese Geschichten, erst dann werde ich endlich glücklich sein bzw. mich anerkannt fühlen. Die Frage danach, wer er denn nun eigentlich wirklich sei, die kommt bei uns tatsächlich erst ganz am Ende seines Lebens.
Ich sehe Sie als Regisseur, der stark auf sinnliche Vergegenwärtigung setzt und auf das Drama im Sinne von Handlung. Kommt Ihnen da „Peer Gynt“ mit seinen Schauplatzwechseln und seiner vorantreibenden Dramatik entgegen?
Ja, total. Ich liebe es, eine Geschichte zu erzählen und sinnlich begreifbar zu machen; Vorgänge nicht nur über den Kopf, sondern über den Bauch erspüren und nachvollziehen zu können. Und dann im besten Fall drei, vier gesellschaftspolitisch relevante Fragen mit rauszunehmen, über die man dann selber nachdenken kann. Das ist für mich die Traumvorstellung von einem Theaterabend.
Peer Gynt | R: Simon Solberg | 2.(P), 10., 22.12. | Theater Bonn | 0228 77 80 22
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