Ewald Palmetshofer ist Spezialist für Überschreibungen fremder Stücke, von Schiller über Marlowe bis zu Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“, das gerade die Theaterbühnen erobert. Der naturalistisch-abgestandene Klassiker über die neureiche Bauernfamilie Krause, die dem Alkoholismus verfallen ist, wird zu einem Mittelstandsdrama. Die Unternehmerfamilie wird von Mutter Krause zusammengehalten. Tochter Helene hat es in der Großstadt nicht geschafft und ist zurückgekehrt. Ihre Schwester Martha ist schwanger. Marthas Mann Thomas Hoffmann klopft rechtpopulistische Sprüche. Als sein alter Freund Alfred Loth, ein linker Journalist, auftaucht, kommt es zum Showdown. Das Theater Bonn bringt „Vor Sonnenaufgang“ in einer Inszenierung von Sascha Hawemann auf die Bühne.
choices: Herr Hawemann, bei Hauptmann stand noch die neureiche Bauernfamilie Krause im Zentrum. Bei Palmetshofer geht es um den Mittelstand. Sind uns Bauern fremd geworden?
Sascha Hawemann:Die Überschreibung von Ewald Palmetshofer transportiert den Stoff aus dem historischen Kontext in einen gegenwärtigen. Die Familie Krause gehört jetzt dem Mittelstand an und leitet ein Unternehmen in der Automobilindustrie, der letzten Wachstumsbranche in diesem Land. Das ist altes Geld, das auf die Leistung früherer Generationen zurückgeht. Der Reichtum der Automobilindustrie hat seine Wurzeln im Dritten Reich. Mit diesem Schuldgeld generierte man das Wachstum. Bei Hauptmann dagegen ist es neues Geld einer sich neu erfindenden zukunftsgläubigen Industriegesellschaft.
Verändert das nicht die ursprüngliche Intention von Hauptmann und des Naturalismus?
Das sind Menschen in einer deregulierten kapitalistischen Gesellschaft, die permanent Leistungsbereitschaft voraussetzt und die Überlebensstrategien abfordert. Es gibt das äußere Moment der Arbeiterschaft oder der Bauern nicht mehr, sondern nur noch den Blick ins Innere, in den ökonomisch emotionalen Grundbaustein: die Familie. Was macht das kapitalistische Wirtschaftssystem mit diesen Menschen, mit der Familie? Es geht darum, wie sie in und durch ihren Wohlstand beschädigt und darüber letztlich dysfunktional werden. Eines meiner Lieblingsbücher ist Erich Fromms „Psychoanalyse des Kapitalismus“. Seine These ist, dass der Kapitalismus krankmacht und zu Alkoholismus, Fettsucht, Selbstverstümmelung, Suizid, Aggressionsstau und bis zur Depression führt, das ist die Grundsetzung für mich.
Die Depression der schwangeren Martha, die bei Palmetshofer anders als bei Hauptmann eine zentrale Rolle spielt, hat also keine privaten Ursachen?
Martha Depression hat ihre Ursache im ökonomischen System der Familie und ihrem Druck des Herstellens, Machens und Funktionierens. Martha wirft ihrer Familie vor, sie in Bilder von funktionalem Frausein und glückseliger Mutterschaft pressen zu wollen, zu denen sie keinen Bezug hat. Die Erfüllung eines genderzentristischen Rollenbildes als Lebenserfüllung macht krank.
Sind die Verwundungen der bürgerliche Klasse also eher innerliche Verletzungen?
Da ist die Depression von Martha, das Scheitern ihrer Schwester Helene als Künstlerin, dann der Alkoholismus des Vaters, die tiefe Frustration der Stiefmutter, der Machiavellismus von Marthas Ehemann, der Zynismus des Landarztes – jeder trägt ein Moment des Scheiterns mit sich herum. Was alle krank macht, sind die Werte unserer Gemeinschaft, die auf einen homo oeconomicus ausgerichtet ist. Martha will gar kein Kind kriegen, weil die Zukunft unklar ist, weil es keinen utopischen Entwurf gibt. Es geht nur noch ums Aushalten. Die Eltern halten nur noch zusammen, damit der Betrieb läuft. Hoffmann ist nicht aus Überzeugung Rechtspopulist, sondern nur aus Karrieregründen. Darunter leidet wiederum die Beziehung zu Martha, die bleiben muss, wo das Geld ist. Das Stück zeigt Personen, die in den zementierten Strukturen nicht mehr weiterkommen.
Bei Hauptmann geht es noch um den Aufstieg der Bauern. Was beschreibt Palmetshofer?
Die Behauptung des Wohlstands-Status quo um den Preis emotionaler Enthausung. Es wurde ein Wohlstand erreicht, den man notdürftig beschützt. Der Preis sind Tage ohne Morgen, Nächte ohne Traum. Deswegen auch die Drehbühne, es dreht sich und dreht sich, es geht aber nicht voran.
Ist Hoffmann letztlich nicht doch ein überzeugter Rechtspopulist?
Nein, er hat die Zeit erkannt und weiß, was funktioniert. Er will Karriere als Lokalpolitiker machen und operiert mit den Zukunftsängsten und gesellschaftlichen Frustrationen der Menschen. Rechtsruck führt nach oben. Er ist kein Überzeugungstäter. Er erzählt die Geschichten, die die Wirklichkeit gerade braucht, so sagt er selbst. Der Konflikt mit Alfred Loth entspringt einer einstmals gemeinsamen linken Utopie. Loth vertritt Überbleibsel einer sozial-egalitären linken Idee und Hoffmann ist ein zynischer Realpolitiker, der das Schwächeln der Demokratie für einfache Antworten ausnutzt. Wenn beide in den Diskurs gehen, formiert sich wieder eine Gemeinschaft, auch in der Feindschaft. Da fangen beide wieder an zu leben, suchen im Konflikt das Gegenüber und kommen darüber wieder zusammen.
Ist Loth nicht eher eine komische Figur oder ist er ernst gemeint?
Sehr ernst. Für mich ist das ein linker Robinson, der vereinsamt ist und jetzt eine Schlacht sucht: Um sich selber abzugleichen, um die eigene Position zu bestimmen, Erinnerung nicht zu verlieren. Er denkt, dass es einen anderen Entwurf von Menschheit geben muss, hat jedoch nur noch Kraft für ein Duell, der große Kampf ist verloren. Hoffmann wiederum ist insofern in sich widersprüchlich, als er wirklich um seine Frau Martha besorgt ist und gleichzeitig eine unmenschliche Politik zugunsten der eigenen Karriere und des Wohlstands betreibt. Man muss zeigen in welchen Ambivalenzen diese Menschen leben.
Warum kommt Helene eigentlich aus der Stadt in die Enge der Provinz zurück?
Es ist wie bei vielen freien Künstlern, es hat in Berlin, Hamburg oder München nicht geklappt. Sie ist aus Not gezwungen, in die Provinz zurückzukehren und wieder zur kleinen Tochter zu werden. Sie setzt allerdings ihre künstlerische Auseinandersetzung ohne Publikum fort und das hat etwas Bitteres. Ich definiere sie als Performancekünstlerin, sie arbeitet mit und an ihrem Körper und setzt sich mit ihrer Familiengeschichte auseinander. Depression und familiäre Repression wird hier zu Kunst.
Geht es letztlich darum, den Zerfall von Außen und Innen sichtbar werden zu lassen?
Ja, es geht um das Sichtbarwerden einer tiefen gesellschaftlichen Wunde. Der Burnout im Viertaktmotor Deutschland. Unter dem Mercedesstern hausen Einsamkeit und Sehnsucht nach einem anderen Körper. Menschen bewegen sich wie haltlose Gestirne durch den sternenlosen Raum. Der Traum ist aus, aber wir werden leben (Red.: Ton Steine Scherben)...müssen leben.
„Vor Sonnenaufgang“ | R: Sascha Hawemann | 2.(P), 10., 18., 26., 31.10. 19.30 Uhr | Theater Bonn | 0221 77 80 08
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Ritter in der Moderne
„Don Quijote“ am Theater Bonn
Leichnam zu fairem Preis
„Glaube Liebe Hoffnung“ am Theater Bonn
Kampf gegen Windmühlen
„Don Quijote“ am Theater Bonn – Prolog 11/24
Plädoyer für Klimagerechtigkeit
„216 Millionen“ am Theater Bonn
Den Schmerz besiegen
„Treibgut des Erinnerns“ in Bonn – Theater am Rhein 07/24
„Wir können nicht immer nur schweigen!“
Jens Groß inszeniert Heinrich Bölls Roman „Frauen vor Flusslandschaft“ am Theater Bonn – Premiere 06/24
Geschlossene Gesellschaft
„Flight“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 01/24
Mörderische Gesellschaftsstruktur
Georg Büchners „Woyzeck“ am Bonner Schauspiel – Auftritt 01/24
Der unfassbare Gott
Oper Bonn zeigt Arnold Schönbergs „Moses und Aron“ – Oper in NRW 12/23
„Ein interdisziplinäres großes Theaterhaus für die Stadt“
Die Dramaturgin Stawrula Panagiotaki übernimmt die Leitung der Studiobühne – Premiere 11/23
Nicht gerade familientauglich
„Frankenstein Junior“ an der Oper Bonn – Musical in NRW 10/23
Fluch der tragischen Rache
„Rigoletto“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 10/23
„Die Hoffnung muss hart erkämpft werden“
Regisseur Sefa Küskü über „In Liebe“ am Orangerie Theater – Premiere 11/24
„Das Ganze ist ein großes Experiment“
Regisseurin Friederike Blum über „24 Hebel für die Welt“ in Bonn und Köln – Premiere 10/24
„Wir wollen Rituale kreieren“
Regisseur Daniel Schüßler über „Save the planet – kill yourself“ in Köln – Premiere 09/24
„Draußen geht viel mehr als man denkt“
Schauspielerin Irene Schwarz über „Peer Gynt“ beim NN Theater Freiluftfestival – Premiere 08/24
„Familie ist immer ein Thema“
Regisseur Rafael Sanchez und Dramaturgin Sibylle Dudek über die Spielzeit 2024/25 am Schauspiel Köln – Premiere 07/24
„Brisante politische Inhalte, lustvoll präsentiert“
Leiter Haiko Pfost über das Impulse Theaterfestival 2024 in Köln, Düsseldorf und Mülheim a. d. Ruhr – Premiere 05/24
„Wir wissen nicht viel über das Universum“
Ronny Miersch inszeniert „Der Mensch erscheint im Holozän“ am TdK – Premiere 04/24
„Es wird ein Kampf um Vormachtstellung propagiert“
Rafael Sanchez inszeniert „Die letzten Männer des Westens“ am Schauspiel Köln – Premiere 03/24
„Wir wollten die Besucher:innen an einem Tisch versammeln“
Subbotnik zeigt „Haus / Doma / Familie“ am Orangerie Theater – Premiere 02/24
„Der Roman lässt mich empathisch werden mit einer Mörderin“
Regisseur Bastian Kraft über „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ – Premiere 01/24
„Wir sind voller Hoffnung, dass Demokratie möglich bleibt“
„Fulldemo.crazy“ kombiniert Möglichkeiten des Theaters und des Gamings – Premiere 12/23