Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der große Knall kommt. Die Selbstheilungskräfte des Marktes sind aufgebraucht. Selbst die Lenker des Kapitalismus glauben nicht mehr daran. Statt auf Wachstum spekulieren sie schon auf den Untergang des Systems. In „Das Himbeerreich" von Dokumentarfilmer und Autor Andres Veiel sprechen nun die, die das Finanzsystem und seine perversen Gesetzte von innen kennen. Rund 1.500 Seiten Interviewmaterial von echten „Big-Playern" am Investorenmarkt hat er auf Theaterstücklänge und sechs Protagonisten eingedampft, von denen bei Regisseur Stefan Herrmann wiederum nur noch vier geblieben sind. „Am Anfang arbeitest du mit ein paar Millionen, dann kommt 'ne Null dran und noch eine...", erklärt einer der aus dem Himbeerreich Gefallenen in Anzug und Krawatte. Hinter einem Netz am vorderen Bühnenrand sammeln sich auf vier abgeteilten Bahnen: ein Testosteron-Banker, einer, der hadert, eine abgeklärte Brokerin und ein Chauffeur neben abgegriffenen Sätzen wie:„Risiko und Ertrag sind siamesische Zwillinge."
Die Floskeln über skrupellose Machenschaften und selbsterklärte Opferhaltungen könnten entlarvend wirken, verlieren im künstlichen Medium Theater aber ihre Kraft.Es ist die Rede von Deals und von staatlich gewollten Risiko-Investments – vor allem aber von der Ahnungslosigkeit, mit der Entscheidungen getroffen werden.Die interessanteste Figur ist die einzige Frau. Sie ist es deshalb, weil Katharina Waldau sie nicht moralisch für uns beurteilt. Leider unterläuft Herrmann dieses Grauen der größenwahnsinnigen Normalität mit allerlei Regieeinfällen. Mal balancieren die Protagonisten auf Bällen, mal zerren sie sich gegenseitig an Seilen hin und her, mal filmen sie sich in getrennten Boxen und sprechen dazu im Chor – jedes Bild hat seine Berechtigung, alle zusammen führen in die Beliebigkeit und zeigen, dass der Komplexität des Systems auf dem Theater nicht beizukommen ist.Die dunkel wabernden Beats, die man aus Dokumentarfilmen kennt, erinnern einen daran, dass man die Dia-Show über die korrupten Personalstrukturen von Goldman Sachs doch lieber mit O-Tönen gesehen hätte.
„Das Himbeerreich" | R: Stefan Herrmann | 1.10., 22.-25.10. 20 Uhr | Theater im Bauturm | 0221 52 42 42
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