Es wird dort für immer so sitzen. Mit dem Rücken zum Publikum. Ganz gerade. In einem fürstlich gewebten Kleid. Wartend. Wissend. Umgeben von Rauch und Ruhe. Es wird sich nicht wenden. Die Sekunden eins bis 600 umfassen die grazilsten Momente des vergangenen und des neuen Jahres. Eine alabasterweiße Schöpfung mit nach hinten geflochtenen roten Haaren, scheinbar flüsternden Wangen, lächelnden Schultern und einem den Zuschauer ruhig betrachtenden Nacken: So, wie „The Feral Womxn“ dort im Zentrum der Bühne zu hypnotischen Klängen verweilt, definiert sich Harmonie. Das wird sich ändern.
Das Wesen erhebt sich, gibt sein Antlitz preis, changiert im Takt des dichtgewobenen Soundtracks vom Rotkäppchen zur Hexe und zu Maria Magdalena. Gleich einem dunklen Gewässer fließt es in befremdliche wie vertraute Zustände. Der Körper mutiert von sinnlicher Unschuld zum aasfressenden Biest und zur heiligen Hure. Erst eine zuckende, insektenhafte Kreatur, dann eine witternde, wölfische Säugerin, die langsam und genüsslich geronnenes Blut kaut. Eine verzaubernd schöne, animalische Erscheinung, die in der Bewegung erstarrt, nur um in tranceartigen Bewegungen die Verzückung zur Fratze zu entstellen. Das Wesen liebt, kopuliert, gebiert, frisst, jagt, flieht im Staccato, verbreitet Angst und Abscheu auf der Bühne des Bauturm, der mit Rümpfen von Menschenpuppen bedeckt ist. Seine Sprache: Furcht. Die Nahrung: es, sie, er, ich. Die Bestimmung: sein. Ein Totentanz. Doch das Wesen tanzt nicht. Es reagiert. Falsch. Es wird bewegt. Von Schlächtern, Verliebten, Halbohnmächtigen, Sterbenden, Neugeborenen und nahenden Sternen.
In ihrer selbst inszenierten Soloperformance schafft Jemima Rose Dean zur Musik der Berliner Künstlerin Lindred Raum für den Schmerz. Dean kreiert den persönlichen X-Faktor in einem unlösbaren Lebensgleichnis. Die Aktrice spielt in den tiefen Nadel-Wäldern ihrer Psyche mit der grotesken Existenz, die als getarntes himmelblaues Märchen erscheint, jedoch dem Nachtmahr huldigt. Leicht überzeichnet in Augenblicken der kindlich vor sich hin singenden Lolita und zum Teil gefangen in einer Schleife von Entsetzen und Erlösung, beeindruckt die rund 60-minütige Darbietung in englischer Sprache mit verstörender, aber wachrüttelnder Choreographie einer verloren gegangenen wilden, weiblichen Göttlichkeit, die in allem lebt(e).
The Feral Womxn | 23., 24.2., 7., 8.3., 25., 26.4. je 20 Uhr | Theater im Bauturm | www.theaterimbauturm.de
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