Wo die wilden Kerle wohnen
USA 2008, Laufzeit: 101 Min., FSK 6
Regie: Spike Jonze
Darsteller: Max Records, Catherine Keener, Mark Ruffalo, , Steve Mouzakis, Pepita Emmerichs, Max Pfeifer, Madeleine Greaves, Joshua Jay
Nach einem Streit mit der Mutter reist der 9jährige Max mit einem Boot zu der Insel, wo die wilden Kerle wohnen. Dort wird er ihr König und begegnet sich selbst.
Fast jeder kennt die wundervolle Buchvorlage aus seiner eigenen Kindheit. Maurice Sendaks „Wo die wilden Kerle wohnen“ von 1963 erzählt von dem wild umhertollenden Max, der von der Mutter ohne Essen auf sein Zimmer geschickt wird. Dort sitzt er in seinem Wolfskostüm und schmollt, als aus seinem Zimmer langsam ein Urwald wird. Er schreitet in die weite Welt, segelt zu einer fernen Insel und trifft dort die wilden Kerle, die ihn zu ihrem König machen. Als bekannt wurde, dass das Buch verfilmt wird, musste man sich fragen, wie man aus dieser Vorlage wohl einen 100minütigen Film machen könne. Denn die Bilderbuchvorlage umfasst nicht mal 20 Sätze. Bislang gab es daher nur einen knapp 7 Minuten langen Animationsfilm von Gene Deitch aus dem Jahr 1973. Deitch, der mehrfach populäre Kinderbücher für Kurzfilme animiert hat, darunter auch „Die drei Ritter“ von Maurice Sendaks Freund Tomi Ungerer, machte lediglich eine werkgetreue Adaption. Spike Jonze („Being John Malkovich“, „Adaption“) füllt die Vorlage mit seinen ganz eigenen Vorstellungen von einer Kinderwelt, ohne die Vorlage zu missachten.
Psychologisches Spiegelkabinett
Die Rahmenhandlung zeigt, wie Max durch das Haus schleicht, mit seinem Hund tobt, die Nähe zu seiner alleinerziehenden Mutter sucht, vor der Tür ein Iglu baut und mit den Freunden seiner Schwester eine Schneeballschlacht anzettelt, um bei ihr Aufmerksamkeit zu erlangen. Letzteres endet mit Tränen, als einer der älteren Jungs sein Iglu zerstört. Es soll im Film nicht die einzige Behausung bleiben, die in die Brüche geht. Vielmehr ist die Gefahr der Zerstörung der Familie ein Grundthema des Films, und Max' Traurigkeit und Einsamkeit scheint durch alle Szenen. Der Junge verwandelt die unangenehmen Gefühle zunehmend in Aggression. Als eines Abends ein Freund der Mutter zu Besuch kommt, reagiert Max unverhältnismäßig. Ein Streit mit der Mutter endet mit einem Biss in ihre Schulter. Danach haut Max ab und flüchtet ins Gebüsch. Dort entdeckt er ein Boot und den weiten Ozean. Hier beginnt seine Reise zu den wilden Kerlen.
Spike Jonze hat mit dem neuen Aspekt „Trennungskind“ die psychologische Ebene ausgebaut. Im fantastischen Teil des Films wird die problematische Ausgangssituation dann umgekehrt, gespiegelt, variiert und neu durchgespielt. Der Besuch bei den wilden Kerlen ist vor allem eine Reise in das Innenleben von Max, die seine Probleme mit und seine Illusionen über zwischenmenschliche Beziehungen beleuchtet.
Durch die Augen eines Kindes
Wider Erwarten ist dieser für eine so große Produktion so aufrichtige und ästhetisch ungewöhnlich inszenierte Film in den USA sehr gut angelaufen, kurzzeitig stieg er sogar auf Platz Eins der Kinocharts. Dass Max seine Probleme auch als König nicht lösen kann, dass im Reich der Fantasie seine Probleme schlussendlich nur noch sichtbarer werden, hat dem Film aber auch Kritik eingebracht. Als Max zum König der wilden Kerle wird, fragen sie ihn, ob er sie vor der Traurigkeit schützen kann. Sein kindlicher Wunsch lässt ihn da noch mit 'ja' antworten. Er wird später merken, dass der Wunsch nicht ausreicht. Max' kindlicher Wunsch entspricht interessanterweise genau der normierten Dramaturgie des Hollywood-Mainstreams, der wie ein unreifes Kind agiert: Trauer wird übertönt, das Happy End einfach behauptet. Vor allem, wenn es um die Familie geht. Dass für die Wiedervereinigung der heiligen Kuh Familie heutzutage noch der Stiefvater sterben muss, zeigt Roland Emerich mit „2012“. Spike Jonze interessiert sich für solche wertkonservativen Ideen kein bisschen. Er akzeptiert die Tatsache unreparierbarer Beziehungen und kümmert sich stattdessen um die Flurschäden.
Ob der Film nun für Kinder geeignet ist, müssen die Kinder entscheiden – am besten jedes für sich. Der wilde, anarchische Teil des Films übersteigt mit seiner latenten Aggression sicherlich den freundlichen Freigeist einer Pippi Langstrumpf. Die spätere Traurigkeit des Films ist selbst für Erwachsene schwer zu ertragen, auch wenn das wundervolle Schlussbild eine versöhnliche Ruhe ausstrahlt. Spike Jonze sagt, er wollte keinen Kinderfilm, sondern einen Film über die Kindheit machen. Das ist ihm eindrucksvoll gelungen. Man meint, durch die Augen eines Kindes auf die Welt zu blicken. Das ist etwas ganz Besonderes. Mann muss sich im Vergleich „Die wilden Kerle“ der Ochsenknecht-Brüder ansehen, der absolut identisch mit der Erwachsenen(film)welt ist. Jonze hingegen hat wie aktuell vielleicht nur Michel Gondry, dessen „Science of Sleep“ gleich mehrere Parallelen zu dessen wilden Kerlen aufweist, die Gabe, die eigene Kindheit zu revitalisieren. Das fängt bei den liebevoll 'gebastelten' wilden Kerlen, mit denen Max kuscheln und raufen kann, an und hört noch lange nicht mit dem naiv-kindlichen Weirdo-Soundtrack auf. Es mag 'nur' Max' Fantasie sein, der wir im Film folgen. Sie ist aber so liebevoll und fürsorglich inszeniert, wie es die Gefühle verdienen, die Max dort erlebt und erlernt.
(Christian Meyer)
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