Süßes Gift
Frankreich/Schweiz 2000, Laufzeit: 99 Min., FSK 12
Regie: Claude Chabrol
Darsteller: Isabelle Huppert, Jacques Dutronc, Anna Mouglalis, Rodolphe Pauly, Michel Robin, Brigitte Catillon, Mathieu Simonet, Isolde Barth
Wo immer Chabrol auch hinschaut liegt eine halbverschimmelte Leiche im Keller. Diesen Kadaver in einer scheinbar so klinisch heilen Welt ans Licht zu bringen, zu beobachten, wie der Putz zu bröckeln beginnt und die Fassaden brüchig werden bis das kleine schmutzige "Familiengeheimnis" gelüftet ist, den schmerzhaften Prozess hin zur Selbstkonfrontation minuziös aufzuzeichnen ist seit eher Chabrols lüsternes Sinnen und Trachten. Auch in "Merci pour le chocolat" liefert er ein kleines, feingeschnitztes Meisterwerk um "Schuld und verunmöglichte Sühne".Wie nebenbei erfährt eine junge Frau, dass gewisse Zweifel angesichts der Identifikation ihrer Eltern bestehen. Im Krankenhaus kam es einst zu einer Verwechslung mit dem Neugeborenen eines Pianisten, für Anna eine um so irritierendere Nachricht, da sie selbst Pianistin ist. Schnell entwickelt sich zwischen den beiden Instrumentalisten eine Liaison, die intensiver ist als all das morsche, artifizielle Rollenspiel um sie herum. Eifersüchteleien und Hassgefühle können nicht ausbleiben: der dümpelnde Sohn des Pianisten fühlt sich bedroht und die Mutter Annes sieht sich gezwungen, ihrer Tochter ihren lebenslangen Täuschungsversuch über die Identität ihres Vater zu gestehen währenddessen die aktuelle Ehefrau des Pianisten, eine von der unterkühlten Isabelle Huppert kongenial gespielten kontrollierte Geschäftsfrau, bereits beginnt bei perfekter Wahrung einer klinisch freundlichen Oberfläche - ihr mörderisches Spinnennetz zu entfalten.Wieder einmal zeigt Chabrol die Implosion eines bourgeoisen Kleinhaushaltes in Zeitlupe, die sich verdichtet zum finalen Bild der in sich zusammengerollten, einsamen Mörderin, über die der von ihrem Mann ständig eingeprobte Trauermarsch von Liszt hinwegrollt. Die einzig authentische Sprache in diesem Szenarium ist, wie Chabrol konsequent zeigt, lediglich die Musik. Er schafft in der Figur dieser integren Geschäftsfrau eine überzeugende Inkarnation des vom Philosophen Slavoj Zizek als "post-psychologischen" bezeichneten Subjekts, welches mörderische Gesinnungen emotions- und reuelos austrägt und mit einer perfekt funktionierenden Oberfläche zu verbinden vermag. Ihre letzten Tränen gelten lediglich der inneren Leere, in die die selbstgespaltene Frau zurückfällt. Auf den ersten Blick verkörpert die einzige Fluchtlinie in diesem Kammerspiel der Nichtauthentizität eindringlich der souveräne, ganz auf die Kreation konzentrierte Pianist (Jacques Dutronc), freilich aber um den Preis einer Distanz, die schnell als Kühle erscheint. Besonders seine verwunderliche Gelassenheit gegenüber der Selbstdechiffrierung seiner Frau als Mörderin verblüfft. So gelingt es Chabrol in der letzen Einstellung, den fatalen Kreis zu schliessen und die Souveränität des Pianisten als "Pathologie des Kreativen" erscheinen zu lassen. Seine Absenz im alltäglichen Leben und sein kaum kaschiertes Desinteresse an Gefühlen der ihn Umgebenden wird lesbar als Initiationspunkt der Selbstspaltung einer hilflos liebenden Mördin.
(Dieter Wieczorek)
Zermürbte Gesellschaft
choices preview zu „Critical Zone“ im Odeon – Foyer 11/24
„Mir wurden die Risiken des Hebammenberufs bewusst“
Katja Baumgarten über ihren Film „Gretas Geburt“ – Foyer 11/24
Die ganze Palette Kino
9. European Arthouse Cinema Day – Festival 11/24
Nach Leerstellen suchen
„Riefenstahl“ im Weisshauskino – Foyer 11/24
Kunst des Nicht-Wegschneidens
„Anna Zeit Land“ im Filmforum – Foyer 10/24
Liebe und Macht
choices preview zu „Power of Love“ in der Filmpalette – Foyer 10/24
Schnitte in Raum und Zeit
Die 24. Ausgabe des Festivals Edimotion in Köln ehrt Gabriele Voss – Festival 10/24
Restitution von Kolonialraubkunst
„Dahomey“ und „The Story of Ne Kuko“ im Filmforum – Foyer 10/24
„Die Geschichte ist jetzt unfassbar aktuell“
Regisseur Andreas Dresen über „In Liebe, Eure Hilde“ – Gespräch zum Film 10/24
Die hemmungslose Leinwand
Sexualität im Kino – Vorspann 10/24
„Zuhause sehnen wir uns nach der Ferne...“
Kuratorin Joanna Peprah übers Afrika Film Fest Köln – Festival 09/24
Afrikanisches Vermächtnis
Das 21. Afrika Film Festival widmet sich dem Filmschaffen des Kontinents – Festival 09/24
Kurzfilmprogramm in der Nachbarschaft
„Kurzfilm im Veedel“ zeigt Filme zu aktuellen Themen in Köln – Festival 09/24
Sorge um die Filmkultur
Veränderungen und Einsparungen stehen vor der Tür – Vorspann 09/24
Disziplin, Drill und Durchlässigkeit
„Mädchen in Uniform“ im Filmforum – Foyer 08/24
Volles Programm(heft)
40-jähriges Jubiläum der Internationalen Stummfilmtage Bonn – Festival 08/24
Sommer-Endspurt
Humor und Weltrettung für Jung und Alt – Vorspann 08/24
Der Sieg des Glaubens
„Führer und Verführer“ im Odeon mit Regisseur Joachim Lang – Foyer 07/24
Queere Menschen in Polen
„Boylesque“ im Filmhaus – Foyer 07/24
Pssst!
Zu Spoilern, Prequels und Remakes – Vorspann 07/24
„Es geht um Geld, Gerechtigkeit und Gemeinschaft“
Regisseurin Natja Brunckhorst über „Zwei zu eins“ – Gespräch zum Film 07/24
Ein Fest des Kinos
Die Kölner Kino Nächte präsentieren an 4 Tagen knapp 50 Filme – Festival 07/24
Der Tod, der uns verbindet
NRW-Premiere von Eva Trobischs „Ivo“ – Foyer 06/24
Die schwierige Situation in Venezuela
„Das Land der verlorenen Kinder“ im Filmhaus – Foyer 06/24
Sternenkriege und Weißer Terror
Volles Sommerkinoprogramm – Vorspann 06/24