Leviathan
Russland 2014, Laufzeit: 141 Min., FSK 12
Regie: Andrey Zvyagintsev
Darsteller: Aleksey Serebryakov, Elena Lyadova, Vladimir Vdovitchenkov
>> leviathan-film.de/
Erbarmungsloses Drama um Korruption und Machtmissbrauch
Hiobsbotschaften
„Leviathan“ von Andrey Zvyagintsev
Der Leviathan ist ein mächtiges Seeungeheuer, das sich Gott als Spielgefährten geschaffen hat. Im Buch Hiob wird Leviathan als Gleichnis verwendet, um Hiob vor Augen zu führen, wie sinnlos seine Versuche sind, gegen sein Schicksal aufzubegehren. Gott nimmt ihm alles, um seinen Glauben zu testen, Hiob erduldet es, bis ihm nichts mehr bleibt. Der 140-minütige Film ist schon weit fortgeschritten, und die hiobsche Talfahrt des Protagonisten Kolia scheint unaufhaltsam, da entgegnet ihm ein Priester dieses Bibelzitat: „Kannst du den Leviathan ziehen mit dem Haken und seine Zunge mit einer Schnur fassen? … Wenn du deine Hand an ihn legst, so gedenke, dass es ein Streit ist, den du nicht ausführen wirst … Niemand ist so kühn, dass er ihn reizen darf.“
Fragwürdige Seilschaften
Kolia (Aleksey Serebryakov) lebt mit seiner jungen Frau Lilya (Elena Lyadova) und Kolias Sohn Roma (Sergey Pokhadaev) an der rauen Nordküste Russlands. Er betreibt eine kleine Autowerkstatt, die der Familie keinen Luxus erlaubt – aber man kann davon leben. Vorausgesetzt, Kolia kann seine Arbeit weiterhin verrichten. Doch der Bürgermeister (Roman Madyanov) der heruntergewirtschafteten, kleinen russischen Küstenstadt setzt alle Hebel in Bewegung, um an das Land von Kolia und seiner Familie zu kommen. Es soll wegen öffentlichen Interesses enteignet werden. Die Familie ist verzweifelt. Erst als Kolias Jugendfreund Dimiti, ein weltgewandter Anwalt aus Moskau, belastendes Material gegen Bürgermeister Vadim auspackt, kann die Familie ihm Paroli bieten. Doch Vadims Einfluss ist groß, und ganz so leicht, wie es zunächst den Anschein hat, lässt er sich nicht einschüchtern. Nicht nur hat er politischen Einfluss, er steht sich auch gut mit der Kirche, die wiederum sehr einflussreich ist. Und auch vor illegalen Mitteln schreckt er nicht zurück. Die Tragödie nimmt ihren Lauf.
Regisseur Andrey Zvyagintsev erzählt von der Kollision eines Bürgers mit dem Staat und der dahinter stehenden Kirche langsam und ruhig, aber mit größter Konsequenz. Filmisch ist das Werk gar nicht mal so auffällig: In langen, ruhigen Einstellungen findet „Leviathan“ eine visuelle Entsprechung für die weite, karge Landschaft, die geduldig an den Einzelschicksalen der Menschen vorbeisieht. Angeblich von dem Schicksal des amerikanischen Autoschlossers Marvin Heemeyer inspiriert, der vor zehn Jahren in Colorado seine Wut über behördliche Schikane in einer Zerstörungsorgie mit einem zum Panzer umgebauten Bulldozer entlud, bezieht sich der Titel des Films nicht nur auf das Bibelzitat, sondern gleichfalls auf das gleichnamige staatsphilosophische Werk von Thomas Hobbes: Der denkt 1651 über die Natur des Menschen und den Staat nach. Die Freiheit opfert der Mensch, um den Krieg „jeder gegen jeden“ zu überwinden und Sicherheit für Haus und Hof zu erlangen. Eine Sicherheit, die nur gegeben ist, wenn der Staat vernünftig und gerecht handelt. In den beiden letzten Teilen des Textes widmet sich Hobbes der Religion und dem Verhältnis von Staat und Kirche, deren Einfluss er problematisiert.
Andrey Zvyagintsevs in Russland angesiedelter „Leviathan“ wird im Inland heftig kritisiert. Sowohl die Darstellung von Korruption und Machtmissbrauch als auch die eindeutige Darstellung der Rolle der Kirche in diesem Machtsystem stößt vielen in Russland auf. Und auch wenn der Regisseur betont, seine Geschichte könne so oder ähnlich überall spielen, ist die Ähnlichkeit der Freundschaft zwischen dem Machthungrigen Bürgermeister Vadim und dem orthodoxen Kirchenoberhaupt der Region und Putins Freundschaft mit Kyrill I., dem obersten Vorsteher der Russisch-Orthodoxen Kirche, unübersehbar. Es ist diese fragwürdige Seilschaft, der auch die Intervention von Pussy Riot in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau, dem zentralen Gotteshaus der Russisch-Orthodoxen Kirche, galt.
Beeindruckende Konsequenz
Zvyagintsev zeichnet ein absolut desillusionistisches Bild einer Gesellschaft, in der das Recht des Einzelnen nichts zählt, wenn es in Konflikt zur Meinung der Machthaber steht. Die emotionale Kraft zieht der Film aus seiner Perspektive, die immer die Familie Kolias ins Zentrum stellt und zeigt, wie sich durch deren Konflikt mit den Mächtigen nach und nach alles gegen sie wendet. Mit welcher Unerbittlichkeit der Film das allegorische Schicksal der Familie beschreibt, ist von beeindruckender Konsequenz. Das hat ihm im Westen bereits viele Preise eingebracht und in Russland viel Kritik. Letztere scheint die Thesen des Films zu bestätigen, und „Leviathan“ scheint näher an der Realität zu sein, als es der mythologische Hintergrund hoffen lässt. In der Bibel erhält der bis zuletzt gottesfürchtige Hiob als Belohnung für seinen festen Glauben das Doppelte von dem, was ihm genommen wurde. Aber Zvyagintsev hat keine Bibelverfilmung gemacht, und wir befinden uns im Russland der Gegenwart.
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