Die kanadische Reise
Frankreich 2016, Laufzeit: 98 Min., FSK 6
Regie: Philippe Lioret
Darsteller: Pierre Deladonchamps, Gabriel Arcand, Cathrine de Léan
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Intensives Kino der leisen Zwischentöne
Unverhoffte Familienbande
„Die kanadische Reise“ von Philippe Lioret
Interview mit Darsteller Pierre Deladonchamps
Bereits in seinem Film „Keine Sorge mir geht‘s gut“ aus dem Jahr 2006 erzählt Regisseur Philippe Lioret von einer tragischen Familiengeschichte voller Geheimnisse. Auch sein neuer Film handelt von Geheimnissen und Enttäuschungen. Und wie schon „Keine Sorge mir geht‘s gut“ beruht „Die kanadische Reise“ auf einem Roman. Für den Film hat Lioret die Vorlage, Jean-Paul Dubois‘ Buch „Si ce livre pouvait me rapprocher de toi“ von 2007, die er bereits vor vielen Jahren gelesen hatte, nicht nochmal in die Hand genommen. Stattdessen hat er den Film assoziativ um seine Erinnerung an die Geschichte herum gebaut, also nur lose und frei als Grundlage für seine eigene Geschichte verwendet.
Der in Paris lebende Mathieu (Pierre Deladonchamps) erhält einen ungewöhnlichen Anruf: Die Stimme am anderen Ende der Leitung kommt von der anderen Seite des Atlantiks und erzählt ihm, dass sein Vater bei einem Angelausflug gestorben ist. Die Leiche sei bislang aber noch nicht aufgetaucht, nur das leere Boot. Mathieu ist sichtlich irritiert. Seinen Vater hat der 33-Jährige nie kennengelernt, er ist als Einzelkind bei seiner alleinerziehenden Mutter aufgewachsen. Die Mutter ist tot, aber inzwischen ist er selber Vater, nur lebt er getrennt von seiner Frau und seinem Sohn. Trotzdem versucht er neben der Arbeit möglichst viel Zeit mit seinem Kind zu verbringen. Das gelingt nicht immer. Jetzt, wo er nicht nur erfährt, dass sein Vater gestorben ist, sondern im fernen Kanada außerdem zwei Halbbrüder von ihm leben, macht er sich spontan auf die Reise. Am Flughafen trifft Mathieu auf Pierre (Gabriel Arcand), den unbekannten Anrufer und langjährigen Freund seines Vaters. Der ist wenig begeistert von Mathieus Besuch und klärt ihn auch gleich auf: Die Brüder kennenlernen – das könne er gleich vergessen! Pierre wolle ihnen neben dem Verlust des Vaters nicht auch noch einen bislang unbekannten Bruder aus einem kurzen Flirt von vor über 30 Jahren auftischen. Mathieu ist enttäuscht, lässt aber nicht locker. Freundlicher wird er von Pierres Frau Angie (Marie-Thérèse Fortin) und der gemeinsamen, erwachsenen Tochter Bettina (Catherine de Léan) aufgenommen. Am nächsten Morgen brechen Pierre und Mathieu dann doch auf, um gemeinsam mit den beiden Halbbrüdern Sam (Pierre-Yves Cardinal) und Ben (Patrick Hivon) an einem abgelegenen See nach dem fehlenden Leichnam des Vaters zu suchen.
Philippe Liorets Film wirkt zunächst unauffällig. Neben der Kameraarbeit stechen auf den ersten Blick auch die allesamt beeindruckenden darstellerischen Leistungen und die Dialoge nicht durch Auffälligkeiten hervor, so dass der Genrebegriff Drama zu ‚dramatisch‘ wirkt. In Liorets neuem Film kocht nichts hoch – zwei kleine Prügeleien ausgenommen. Man könnte meinen, damit schöpfe Lioret nicht das Potential der filmischen Ausdrucksweise aus. „Kein Kino!“, im Sinne von „nur Fernsehfilm“ ist da der gängige Vorwurf. Dabei entfaltet gerade das leise Kino von Lioret erst im dunklen Saal und auf der großen Leinwand seine ganze Kraft und lässt die vielen Zwischentöne erstrahlen. Diese Art von unspektakulärer, aber sehr genauer Inszenierung, die dem Zuschauer das Gefühl gibt, gemeinsam mit den Figuren in einem Raum zu sein, entfaltet langsam eine große Intensität. Dass Lioret fast vollständig auf dramatische Effekte verzichtet, bedeutet nicht, dass dadurch Spannung verlorenginge. Die Spannung entsteht durch die kleinen Anspielungen – verbale, aber auch gestische und mimische, die eine Ebene des Ungesagten öffnen. Jenseits eines konzentrierten Guckens, dass man heute mehr denn je nirgendwo sonst erleben kann als im Kino, ginge das leicht verloren. Die Figuren sagen längst nicht alles, was sie sagen sollten, oder was der Zuschauer gerne wüsste. Das Drehbuch ignoriert diese Bedürfnisse – manche Geheimnisse bleiben bis zuletzt nur angedeutet und unausgesprochen – und zieht gerade daraus seine Spannung. Trotzdem ist „Eine kanadische Reise“ heiterer als Philippe Liorets ältere Filme.
(Christian Meyer-Pröpstl)
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