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Alice Buddeberg und Dramaturgin Johanna Vater
Foto: Thomas Morsch (l.) / Thilo Beu (r.)

„Die Idee der Familie ist nicht mehr fortschreibbar“

21. Dezember 2017

Alice Buddeberg inszeniert die Uraufführung von Thomas Melles „Der letzte Bürger“ – Premiere 01/18

Thomas Melles neues Stück „Der letzte Bürger“ ist ein Abgesang auf ein (Bildungs-)Bürgertum, das es so schon längst nicht mehr gibt. Leo Clarenbach liegt im Sterben. Ein letztes Mal trifft sich die Familie und erinnert sich an ein vermeintlich perfektes Leben in Wohlstand, der Bildung, des sozialen und politischen Engagements. Ein Engagement, das allerdings 1989 einen Riss bekam, als klar wurde, dass Leo jahrelang für die DDR spionierte. Melles Auftragswerk für das Theater Bonn ist ein Requiem auf ein Bürgertum, das wie schon bei Henrik Ibsen vor dem Scherbenhaufen seiner Lebenslügen steht. Ein Gespräch mit Regisseurin Alice Buddeberg und Dramaturgin Johanna Vater.

choices: Frau Buddeberg, Frau Vater, in der Familie Clarenbach gibt es Spione, berufliche Versager, Lügen, unzufriedene Kinder. Was ist an dieser Familie bürgerlich? 
Alice Buddeberg: Thomas Melles Stück „Der letzte Bürger“ stellt dieFrage, was von der Idee eines Bildungsbürgertums geblieben ist. Also von Zeitungsabonnement, Klavierspielen, Verantwortung für die Familie, aber auch für die Gesellschaft. Gibt es das noch oder ist dieser Lebensentwurf im letzten Jahrhundert untergegangen.

Johanna Vater: Bei den Clarenbachs ist diese Verantwortung füreinander und für die Gesellschaft verlorengegangen zugunsten einer zunehmenden Vereinzelung und eines Um-sich-selbst-Kreisens. Darum trauern alle ein wenig, auch wenn sie das vermutlich so nie hatten.

Was unterscheidet die Clarenbachs bei Thomas Melle von einer Familie bei Henrik Ibsen vor mehr als einhundert Jahren?
AB: Die Clarenbachs stellen eher eine Fortschreibung der Ibsenschen Familien dar als eine Differenz. Nach der Wende von 1989 allerdings ist der Zusammenbruch des Bürgerlichen oder zumindest des Glaubens daran deutlich spürbar. Man lebt nur noch Schablonen von Bürgerlichkeit, wahrt die Form, aber nicht mehr den Inhalt. Keines der Kinder von Leo schafft es noch, die gesellschaftliche Rolle des Bürgertums zu übernehmen. Die Enkelgeneration diskutiert zumindest wieder über Politik, wenn auch nicht in einem globalen Sinn.

Vater Leo Clarenbach hat für die DDR spioniert und wird nach 1989 verhaftet. Wofür steht diese Spionage-Metapher?
AB: Leo glaubt an die Bürgerlichkeit und den Versuch, zumindest zuhause in einer falschen Welt klarzukommen. Und er glaubt, dass eine andere Welt, ein anderes politisches System möglich ist. Das ist die Utopie. Thomas Melle verhandelt also zwei Themen: die Bürgerlichkeit und den politischen Glauben. Beides geht 1989 unter.

JV: Zum Bürgertum gehört auch die Verantwortung für die Mitgestaltung der Welt, in der wir leben. Überspitzt gesagt, gehört dann auch die Suche nach einem Ausweg in der Utopie dazu, wenn dieses System als fehlerhaft erkannt wird. 

AB: Leo spricht von der Selbstabschaffung seiner Klasse und formuliert damit beinahe eine suizidale Sehnsucht im politischen Sinne.

Warum scheitern die Lebensentwürfe von Leos Kindern Wiebke, Holm und Jasper so trostlos?
AB: Sie haben alle drei Versuche unternommen, die Familie weiter aufrechtzuerhalten wie in der Zeit vor 1989. Sind damit aber gescheitert. Jasper und seine Frau Tanja haben sich extrem wenig zu sagen und führen nur noch ökonomisch eine Beziehung. Dem hedonistischen Modell von Wiebke, das Familie grundsätzlich ablehnt, kommen Alter und Sterblichkeit in die Quere. Jasper und Wiebke haben aber immerhin versucht, sich von ihren Eltern zu emanzipieren. Holm dagegen hat sich derart in die Familiengeschichte verbissen, dass er als Person jenseits dessen gar nicht existiert. 

JV: Letztlich aber schaffen sie es alle nicht, einen individuellen Lebensentwurf unabhängig von der Vergangenheit und der Familie zu gestalten. Sie leben nur in Abgrenzung oder Weiterführung dessen, aber nicht als eigenständige Personen. Sie sind letztlich gescheitert. Der Grund dafür liegt darin, dass das, was sie als glücklich und perfekt wahrgenommen haben, sich plötzlich als Lebenslüge entpuppt. Die Idee der Familie, die man lange als nachlebbar empfunden hat, ist nicht mehr fortschreibbar.

Der Einzige, der Verständnis für Leos Engagement äußert, ist sein rechtsradikaler Enkel Paul.
JV: Paul ist auf der Suche nach einem Halt und verbindlichen Werten, wie auch immer man die bewertet. Deswegen fühlt er sich seinem Großvater näher als seiner eigenen Mutter. Diese Form von Sehnsucht nach Gemeinschaft und Idealen – so unterschiedlich diese auch sind – das verbindet beide.

AB: Während unserer Vorbereitung fand in Mecklenburg-Vorpommern die Wahl statt. Da hörte man dann ständig Frau Petri von der AfD als neuer bürgerlicher Kraft sprechen. Der Begriff des Bürgerlichen erfährt derzeit eine Umdeutung. Es gibt bei Paul eine Sehnsucht nach etwas Größerem als der kaputten Beziehung zu seiner Mutter ist. Sein Blick ist aber eher rückwärtsgewandter als der utopische von Leo.

Inwieweit ist Melles Blick auf die Familie Clarenbach selbst ein westdeutsch-bürgerlicher?
AB: Die Aufarbeitung der Wende aus Sicht der DDR ist das eine. Die andere Frage ist, welche Bundesrepublik eigentlich 1989 untergegangen ist. Es ist einerseits die der Anti-AKW-Proteste, der Lichterketten und des gutem Gewissens. Ich glaube, dass die Familie Clarenbach dafür symbolisch steht. Andererseits gab es bis 1989 eben den politischen Gegenentwurf durch die DDR, selbst wenn dieses System nicht besser, vielleicht sogar falsch war.

JV: Die permanente Anwesenheit des Politischen durch die Teilung Deutschlands ist mit 1989 verschwunden. Es gibt keine Möglichkeit mehr, etwas anderes zu denken. Alles was Sehnsuchtsort hätte sein können, hat sich als nicht lebbar oder ebenfalls als falsch aufgelöst. Auch wenn schon vor 1989 klar war, dass die DDR oder die Sowjetunion nicht die Utopie sein können, blieb die Frage nach den Alternativen zur BRD immer gegenwärtig.

Ist das nicht auch verlogen? Es gab ja nach 1989 durchaus gesellschaftliche und weltpolitische Probleme zuhauf? 
AB: Thomas Melles Stück thematisiert letztlich zwei Zeitenwenden: 1989 und 2016 mit der Wahl von Donald Trump. Wir haben zwar alle die These vom Ende der Geschichte nach der Wende belächelt. Die Welt ist nach 1989 nicht schlagartig friedlich geworden. Trotzdem haben wir die These gefressen und sind darüber ruhig und lethargisch eingeschlafen. Die Wahl 2016 hatte dann eine heilsame eruptive Wirkung.

JV: Eigentlich formuliert Thomas Melle ein Kontinuum von 1945 über 1989 bis 2016 aus. Für Leo wurde 1945 zum entscheidenden Einschnitt, seine eigene Bürgerlichkeit in Frage zu stellen. Für seine Kinder war 1989 ein einschneidendes Erlebnis. Für die Enkelgeneration könnte 2016 eine ähnliche Wende werden. Wo ist der Punkt, an dem das Selbstverständnis, mit dem man groß geworden ist, eine Erschütterung erfährt? 2016 könnte eine Zäsur bedeuten. Die Politisierung nimmt wieder zu. Die Komfortzone und Blase wird so nicht zu halten sein.

Und was bedeutet das für unsere Bürgerlichkeit?
JV: Vielleicht verschieben sich Definitionen und Statussymbole von Bürgerlichkeit. Vielleicht ist die neue Bürgerlichkeit nicht mehr die unserer Eltern, verschiebt sich hin zu Reisen zum Beispiel. Ich habe definitiv mehr gesehen von der Welt als mein Vater, dafür kennt er sich in klassischer Musik sehr viel besser aus.

AB: Ich habe mich im letzten Jahr gefragt, warum die Gesellschaft im Angesicht einer politischen Radikalisierung plötzlich so konservativ wird. Dass man nur noch die Welt, in der man groß geworden ist, verteidigen will. Die Frage ist doch eher: Kann man eine neue Vision entwickeln? 

JV: Es geht also darum, dass das Bürgerliche wieder politisch Haltung beziehen muss. Und vielleicht nicht nur das Bürgerliche.

„Der letzte Bürger“ | R: Alice Buddeberg | 25.(P), 31.1. 19.30 Uhr, 4.2. 18 Uhr | Theater Bonn | 0228 77 80 08

Alice Buddeberg inszenierte u.a. am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, am Schauspiel Frankfurt sowie am Luzerner Theater. 2011 wurde sie mit dem Kurt-Hübner-Preis ausgezeichnet. Sie war mehrere Jahre Hausregisseurin am Theater Bonn und arbeitet inzwischen wieder freiberuflich. 

Johanna Vater studierte Theater-Film- und Medienwissenschaften und Germanistik in Frankfurt am Main und Aberystwyth / Wales. 2010-13 war sie am Schauspiel Frankfurt engagiert. Seit der Spielzeit 2014/15 ist sie als Schauspieldramaturgin am Theater Bonn engagiert.

Interview: Hans-Christoph Zimmermann

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