Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
18 19 20 21 22 23 24
25 26 27 28 29 30 1

12.582 Beiträge zu
3.811 Filmen im Forum

„Istanbul“
Foto: David Baltzer

Verstörendes Dokument über Identität

26. Mai 2017

Nuran David Calis‘ „Istanbul“ zeigt die deutsch-türkische Community als autoritätsgläubig und geschichtsblind – Auftritt 06/17

Platt, aber wahr: Auf der Theaterbühne agieren Figuren, keine Privatpersonen. Wer das anders sieht, verliert an diesem Abend die Contenance. „Istanbul“ von Nuran David Calis hätte eigentlich zur verklärten Beschwörung der Metropole am Bosporus als Sehnsuchtsort werden sollen. Dann kam den Machern die dreckige Geschichtsrealität in Gestalt des Putsches in der Türkei und Erdogans Referendum dazwischen. Und so gerät der Abschluss der Trilogie aus „Die Lücke“ und „Glaubenskämpfer“ zu einem verstörenden Dokument über eine deutsch-türkische Identität zwischen schwerer Traumatisierung und blinder Autoritätshörigkeit, die sich bis in das Verhältnis von Ensemble und Regie niederschlägt.

Es beginnt ergreifend. Ines Marie Westernströer zitiert die Hafterfahrung der Schriftstellerin Asli Erdogan nach dem Putsch, die später von dem Schriftsteller Doğan Akhanli mit einem Bericht seiner Drangsalierung 2010 ergänzt wird. In dazwischengeschalteten Erzählungen berichten die türkischstämmigen Ensemblemitglieder von den Erfahrungen nach dem Putsch: vom Abbruch der Reise in die Türkei, von den Denunzierungen und Diffamierungen in der deutsch-türkischen  Community, den Rissen, die inzwischen durch Familien gehen, den 40.000 Inhaftierten und 90.000 entlassenen Staatsangestellten. Die Inszenierung blendet zurück in die türkische Historie, vor allem den Militärputsch 1980 durch General Kenan Evren. Akhanli entrollt die türkische Geschichte als eine Jahrhunderte währende „Gewaltgeschichte“. Berührend berichtet er, wie sein politisches Engagement nach 1980 nicht nur ihn, sondern seine gesamte Familie traumatisiert habe – bis heute. Seán McDonagh erzählt von der Eroberung von Byzanz 1453 durch Mehmet II. und switcht mit hitleresk sich überschlagender Stimme in Erdogans absurde Anti-Assimilationsrede in Oberhausen („Eure Angelegenheiten sind unsere Angelegenheiten!“).

So berührend manche Szene ist, Calis entwickelt  „Istanbul“ ziemlich einfallslos in dem seit der „Lücke“ etablierten Setting: Fahrbare Plattformen mit Sitzbank, Kameras, die deutsch-türkischen Berufslaien Kutlu Yurtseven, Ismet Büyük sowie  Ayfer Şentürk Demir. Die dramaturgischen Muster bewegen sich erwartbar zwischen Geschichtslektion, inszeniertem Konflikt und pädagogischer Beschwichtigung – und auch der Wutausbruch von Westernströer ist bekannt: Das türkisch-deutsche Trio Yurtseven, Büyük und Şentürk Demir lebe in einer Welt der Illusion und rede sich die Türkei schön. Sie attestiert ihren Bühnenkollegen einen Minderwertigkeitskomplex und die Flucht in eine selbstgewählte Opferrolle. Was das Trio dann allerdings enthüllt, ähnelt einem Offenbarungseid. Ismet Büyük spricht von seiner Liebe zum türkischen „Staat“ (nicht zur Türkei als Land) und träumt einen chauvinistischen Traum von nationaler Selbstermächtigung. Kutlu Yurtseven überzieht Westernströer mit Gegenvorwürfen: Der Westen habe nicht nur das Militärregime, sondern auch Erdogans Referendum anerkannt und er fühle sich in Deutschland und in der Türkei als Fremder. Ayfer Şentürk Demir beklagt, wegen ihres Kopftuchs angegriffen zu werden und beschwört den starken Herrscher. Gründe, die letztlich ein „Ja“ bei Erdogans Referendum rechtfertigten. Kein Wort vom Ende des Parlamentarismus und der Gewaltenteilung in der Türkei. Ob repräsentativ oder nicht, an diesen drei Figuren enthüllt sich, dass Teilen der deutsch-türkischen Community offenbar bis heute eine funktionierende Identität fehlt (und damit Erdogans Kalkül aufgegangen ist), dass sie zudem aufgrund ihrer Selbstviktimisierung, ihres Chauvinismus und ihrer Autoritätssehnsucht nicht demokratiefähig sind. Am Ende resultiert daraus ein Verdacht. Regisseur Calis zeigt die türkische Geschichte als Kontinuität der Gewalterfahrung. Dass er das Figurentrio als unfähig vorführt, aus dieser Geschichte zu lernen, kommt einer Bloßstellung gleich. Erdogans Polarisierungsstrategie setzt sich so bis ins Innerste einer deutschen Theaterproduktion fort. Mehr kann ein Despot nicht verlangen.

„Istanbul“ | R: Nuran David Calis | 1., 5., 13., 20.6. 20 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 22 12 84 00

Hans-Christoph Zimmermann

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Konklave

Lesen Sie dazu auch:

Flucht auf die Titanic
„Muttertier“ am Schauspiel Köln – Prolog 03/24

Parolen in Druckerschwärze
„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ am Schauspiel Köln – Auftritt 03/24

„Es wird ein Kampf um Vormachtstellung propagiert“
Rafael Sanchez inszeniert „Die letzten Männer des Westens“ am Schauspiel Köln – Premiere 03/24

Dunkle Faszination
Franz Kafkas „Der Prozess“ am Schauspiel Köln – Auftritt 02/24

Wiederholungsschleife
„Soko Tatort“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 02/24

Standbein und Spielbein
Pinar Karabulut und Rafael Sanchez gehen nach Zürich – Theater in NRW 01/24

„Der Roman lässt mich empathisch werden mit einer Mörderin“
Regisseur Bastian Kraft über „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ – Premiere 01/24

Ein Martyrium der Erniedrigung
„Kim Jiyoung, geboren 1982“ am Schauspiel Köln – Auftritt 12/23

Ohne Opfer kein Krimi
„Soko Tatort“ am Schauspiel Köln – Prolog 12/23

Ende der Zivilisation
„Eigentum“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 11/23

Verliebt, verlobt, verlassen?
„Erstmal für immer“ am Schauspiel Köln – Prolog 10/23

Des Königs Tod und des Müllers Beitrag
„Yazgerds Tod“ am Schauspiel Köln – Auftritt 10/23

Bühne.

Hier erscheint die Aufforderung!