Platt, aber wahr: Auf der Theaterbühne agieren Figuren, keine Privatpersonen. Wer das anders sieht, verliert an diesem Abend die Contenance. „Istanbul“ von Nuran David Calis hätte eigentlich zur verklärten Beschwörung der Metropole am Bosporus als Sehnsuchtsort werden sollen. Dann kam den Machern die dreckige Geschichtsrealität in Gestalt des Putsches in der Türkei und Erdogans Referendum dazwischen. Und so gerät der Abschluss der Trilogie aus „Die Lücke“ und „Glaubenskämpfer“ zu einem verstörenden Dokument über eine deutsch-türkische Identität zwischen schwerer Traumatisierung und blinder Autoritätshörigkeit, die sich bis in das Verhältnis von Ensemble und Regie niederschlägt.
Es beginnt ergreifend. Ines Marie Westernströer zitiert die Hafterfahrung der Schriftstellerin Asli Erdogan nach dem Putsch, die später von dem Schriftsteller Doğan Akhanli mit einem Bericht seiner Drangsalierung 2010 ergänzt wird. In dazwischengeschalteten Erzählungen berichten die türkischstämmigen Ensemblemitglieder von den Erfahrungen nach dem Putsch: vom Abbruch der Reise in die Türkei, von den Denunzierungen und Diffamierungen in der deutsch-türkischen Community, den Rissen, die inzwischen durch Familien gehen, den 40.000 Inhaftierten und 90.000 entlassenen Staatsangestellten. Die Inszenierung blendet zurück in die türkische Historie, vor allem den Militärputsch 1980 durch General Kenan Evren. Akhanli entrollt die türkische Geschichte als eine Jahrhunderte währende „Gewaltgeschichte“. Berührend berichtet er, wie sein politisches Engagement nach 1980 nicht nur ihn, sondern seine gesamte Familie traumatisiert habe – bis heute. Seán McDonagh erzählt von der Eroberung von Byzanz 1453 durch Mehmet II. und switcht mit hitleresk sich überschlagender Stimme in Erdogans absurde Anti-Assimilationsrede in Oberhausen („Eure Angelegenheiten sind unsere Angelegenheiten!“).
So berührend manche Szene ist, Calis entwickelt „Istanbul“ ziemlich einfallslos in dem seit der „Lücke“ etablierten Setting: Fahrbare Plattformen mit Sitzbank, Kameras, die deutsch-türkischen Berufslaien Kutlu Yurtseven, Ismet Büyük sowie Ayfer Şentürk Demir. Die dramaturgischen Muster bewegen sich erwartbar zwischen Geschichtslektion, inszeniertem Konflikt und pädagogischer Beschwichtigung – und auch der Wutausbruch von Westernströer ist bekannt: Das türkisch-deutsche Trio Yurtseven, Büyük und Şentürk Demir lebe in einer Welt der Illusion und rede sich die Türkei schön. Sie attestiert ihren Bühnenkollegen einen Minderwertigkeitskomplex und die Flucht in eine selbstgewählte Opferrolle. Was das Trio dann allerdings enthüllt, ähnelt einem Offenbarungseid. Ismet Büyük spricht von seiner Liebe zum türkischen „Staat“ (nicht zur Türkei als Land) und träumt einen chauvinistischen Traum von nationaler Selbstermächtigung. Kutlu Yurtseven überzieht Westernströer mit Gegenvorwürfen: Der Westen habe nicht nur das Militärregime, sondern auch Erdogans Referendum anerkannt und er fühle sich in Deutschland und in der Türkei als Fremder. Ayfer Şentürk Demir beklagt, wegen ihres Kopftuchs angegriffen zu werden und beschwört den starken Herrscher. Gründe, die letztlich ein „Ja“ bei Erdogans Referendum rechtfertigten. Kein Wort vom Ende des Parlamentarismus und der Gewaltenteilung in der Türkei. Ob repräsentativ oder nicht, an diesen drei Figuren enthüllt sich, dass Teilen der deutsch-türkischen Community offenbar bis heute eine funktionierende Identität fehlt (und damit Erdogans Kalkül aufgegangen ist), dass sie zudem aufgrund ihrer Selbstviktimisierung, ihres Chauvinismus und ihrer Autoritätssehnsucht nicht demokratiefähig sind. Am Ende resultiert daraus ein Verdacht. Regisseur Calis zeigt die türkische Geschichte als Kontinuität der Gewalterfahrung. Dass er das Figurentrio als unfähig vorführt, aus dieser Geschichte zu lernen, kommt einer Bloßstellung gleich. Erdogans Polarisierungsstrategie setzt sich so bis ins Innerste einer deutschen Theaterproduktion fort. Mehr kann ein Despot nicht verlangen.
„Istanbul“ | R: Nuran David Calis | 1., 5., 13., 20.6. 20 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 22 12 84 00
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