Solingen, in der Nacht zum Samstag, den 29. Mai 1993: Das Haus der Familie Genç brennt. Eine Augenzeugin sieht eine Person aus dem Fenster des obersten Stocks stürzen. Das Gebäude brennt komplett aus, angestiftet durch vier junge Männer aus der örtlichen Neonaziszene. Sie wollten „den Türken“ eins auswischen – als Kurzschlussreaktion auf eine Auseinandersetzung mit Leuten, von denen sie zwei fälschlicherweise für türkischstämmig hielten. Der Brandanschlag tötet fünf Menschen. Es sind Saime (4) und Hülya Genç (9), Gülüstan Öztürk (12), Hatice Genç (18) und Gürsün Ince (27), die ihr Baby retten kann, und sich selbst beim verzweifelten Sprung aus dem Fenster das Genick bricht. Über ein Dutzend weitere sind lebensgefährlich verletzt. Seit bald genau 30 Jahren steht der Anschlag in Solingen damit für einen der traurigen Höhepunkte rassistisch motivierter Gewalttaten Anfang der 90er, nebst Hoyerswerda (1991) oder Rostock (1992).
„türken, feuer“ heißt das Stück, das die mehrfach ausgezeichnete Literatin Özlem Özgul Dündar in Bezug auf den Brandanschlag in ihrer Heimatstadt Solingen geschrieben hat, angestoßen durch die Pegida-Proteste 2014/15. Im NS-Dokumentationszentrum liest sie am 25. Mai aus diesem Werk, das in der vertonten Fassung zum Hörbuch des Jahres 2020 gewählt wurde. Ebenfalls zu Gast ist der Zeithistoriker und Migrationsforscher Patrice Poutrus, der durch aktuelle Forschungs- und Diskussionsbeiträge zum Umgang mit Migrant:innen in der Wendezeit eine weitere Betrachtungsebene liefert. Im Mittelpunkt des Gesprächsabends – der das Rahmenprogramm zu der Sonderausstellung „Un|sichtbarer Terror. Orte rechter Gewalt in Deutschland“ mit Fotografien von Mark Mülhaus darstellt – steht damit das künstlerisch wie auch wissenschaftlich beleuchtete Thema der Geschichte von rechtem Terror in Deutschland.
Fremdenfeindlichkeit und Hass gegen Nichtdeutsche sind in Deutschland weder neu noch gebannt. Laut Poutrus („Umkämpftes Asyl. Vom Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart“, Ch. Link, 2019) sind hier immer Verbindungen zwischen gesellschaftlichen Stimmungen und Stadien der seit Verfassungsgründung aufrührenden Asylrechtsdebatte in Deutschland zu ziehen. „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ hieß es seit 1949 in Artikel 16 des Grundgesetzes, einem Dreh- und Angelpunkt deutscher Geschichte. Mit Blick darauf zieht Poutrus aufschlussreiche Linien von der Nachkriegszeit über die deutsch-deutsche Migrationswelle der Wiedervereinigung bis in die Gegenwart, und befasst sich mit der Entstehung der Frage nach dem Umgang mit Flucht und Asyl. Das Attentat in Solingen geschieht zu einem Zeitpunkt, als um den Grundgesetzartikel ein politischer Streit zwischen restriktiver und liberaler Auslegung entbrennt und sich zugunsten der ersteren entscheidet. Am 26. Mai 1993 wird die Verschärfung des Asylrechts veranlasst – drei Tage später geschieht der Anschlag.
Was kann der künstlerische Zugang bei der Bearbeitung so eines Themas leisten? „Kunst kann wachrütteln!“, sagt Özlem Özgül Dündar. Während tatsächlicher Horror in den nüchternen Zweizeilern der Tagesmedien auf persönliche Distanz und inhaltliche Entfremdung treffe, könne durch künstlerische Verarbeitung wieder Nahbarkeit, Direktheit und Berührung geschaffen werden. „Was heißt es zu überleben? Was geht in einer Frau vor, die am brennenden Fenster steht?“, sind Dündars Fragen „literarischer Erforschung“ zu „türken, feuer“. Seit Jahren setzt sie sich mit dem Thema Kontinuitäten von Gewalt auseinander. Ganz ohne moralische Instanz oder Erzählrahmen kommen hier fünf fiktionalisierte Frauenstimmen zu Wort – darunter eine Überlebende der Familie Genç, eine der Ermordeten und die Mutter eines Attentäters.
Lesung: türken, feuer | NS-Dokumentationszentrum | Do 25.5.23 19 Uhr | museenkoeln.de/ns-dokumentationszentrum
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