Wach sein und wachsam bleiben – auch nach den bundesweiten Massenprotesten der vergangenen Wochen gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus sieht Michel Friedmann die Demokratie in Gefahr. Im Talk-Format #Streitkultur des Urania Theaters sollte Friedmann im Gespräch mit Moderator Lorenz Beckhardt (WDR) eigentlich über die Fragestellung „Ist Antisemitismus jetzt woke?“ debattieren, überging dies jedoch, um sich einem größeren Sujet zu widmen: Der Würde des Menschen. Der Publizist, Jurist und Buchautor („Juden Hass“, berlin Verlag, 2024) agierte während des zweistündigen Gesprächs vor allem als Philosoph, der zur Besinnung auf humanistische Werte anhält. Neben der Verurteilung rechter Ideologien kritisierte der Talkgast Tendenzen aus dem linken politischen Spektrum, etwa das Infrage-Stellen des Verteidigungsrechts Israels nach dem Terrorakt der Hamas. Friedmann erinnerte an menschenverachtende Kapitel aus der Historie: „Denken Sie an den Stalinismus oder Mao Tse-Tung. Die Geschichte des Kapitalismus wurde stets erzählt als Geschichte des Weltjudentums, das das Kapital in seinen Händen hält“, erklärte der Talk-Gast.
In einem emotionalen Gespräch, das Moderator Lorenz Beckhardt klugerweise ohne viele Einschübe zuließ, zeichnete Friedmann ein dystopisches Gesellschaftsbild: „Hass ist hungrig und wird nie satt. Er ist das größte Gift der Demokratie, weil er uns entmenschlicht. Dabei haben wir uns doch etwas versprochen: Die Würde des Menschen ist unantastbar. In unserem Land gibt es seit einigen Jahren eine Partei, die diese Würde antastet“, so Friedmann. Die AfD sei zwar in demokratischen Wahlen aufgestiegen, doch das mache sie nicht zu einer demokratischen Partei. Unabhängig davon glaube er an eine politische Auseinandersetzung im Rahmen des Rechtsstaats. „Ich hasse die AfD nicht. Wir müssen ihre Wähler ernstnehmen und mit ihnen streiten, doch dieser politische Streit findet nicht statt.“ Er wünsche sich, dass sich die Bürger mit größerer Leidenschaft für die Demokratie engagieren als die Mitglieder extremistischer Vereinigungen für deren Abschaffung, sagte Friedmann auf die Frage nach dem Umgang mit Judenhass. „Am 7. Oktober ging es nicht um das Ob des Tötens, sondern um das Wie. Der Welt sollte gezeigt werden, wie man mit Juden umgeht. Es wurden tote Frauen vergewaltigt, es wurde toten Kindern der Kopf abgeschlagen, um zu demonstrieren, dass Juden keine Menschen sind. Dies war das erste Pogrom nach 1945. Die jüngsten Reaktionen haben gezeigt, dass es in Deutschland Empathie gibt, aber wenn man die Zahlen von rund 20.000 Menschen in den ersten drei Monaten nach dem Überfall nimmt, ist das bedenklich.“Die Versprechen „Nie wieder!“ und „Wehret den Anfängen!“ seien gebrochen worden. „Wir sind in Gefahr. Damit meine ich nicht nur Juden. Wenn morgen ein Anschlag auf eine Moschee geschieht, dann bin ich morgen auf der Straße. Wenn Schwule geschlagen werden, bin ich morgen auf der Straße“, versicherte Michel Friedmann und gab das Statement als offene Frage an die Zuhörer weiter.
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