„Die Freiheit ist zerbrechlich. Man muss dafür kämpfen, jeden Tag“, mit diesen Worten und der Frage danach, was man aus der Unfreiheit für die Freiheit lernen könne, leitet Bettina Montazem die Debatte ein. Montazem ist im Iran geboren und kam im Alter von zehn Jahren nach Deutschland, nachdem ihre Familie 1979 aus dem Iran fliehen musste. Gemeinsam mit ihren beiden Töchtern Lea und Rosa Dahm leitet Montazem das Urania Theater in Ehrenfeld. Zur Begrüßung des prominenten Gasts Gerhart Baum – von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister (FDP) und später für die UNO tätig – liest Rosa aus dem Vorwort seines Buchs „Freiheit: Ein Appell“ und Lea singt ein Lied von Richard Strauss. Baum ist der eindeutige Star der Veranstaltung, der auf der imposanten Bank in der Mitte Platz nehmen darf, während Bettina Weiguny und die Moderatorin Melahat Simsek auf Stühlen rechts und links von ihm sitzen. Verglichen mit der ehrerbietenden Begrüßung des ehemaligen Bundesinnenministers muss sich die für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung schreibende Journalistin mit einer bescheideneren Ansprache begnügen.
Junge und ältere Rebell:innen
Als Autorin des Buches „Denn es ist unsere Zukunft: Junge Rebellinnen verändern die Welt – von Greta Thunberg bis Emma González“ ist Weiguny Expertin hinsichtlich junger Aktivistinnen, aber nicht unbedingt eine Fürsprecherin dieser Gruppierungen. Dass die Aktionen zivilen Ungehorsams der Letzten Generation zu radikal seien, in diesem Punkt sind sich Baum und Weiguny sofort einig. Die generationenvereinende Wirkung der Streikaktionen von Fridays for Future hebt Weiguny hingegen als positiv hervor. Um dem Motto der Streitkultur gerecht zu werden, wäre es spannend gewesen, Aktivistinnen von Gruppierungen wie Fridays for Future oder der Letzten Generation an diesem Tag selbst zu Wort kommen zu lassen. So gibt es wenig direkte Konfrontation. Als Weiguny fragt, ob Baum auch seine eigene Partei, die FDP, kritisiere, wird das von der Moderatorin mit den Worten „Das macht er!“ abgeschmettert. Dabei wäre es interessant gewesen, von ihm selbst zu hören, wie er heute zur FDP steht, denn, wie Weiguny richtig anmerkt, kann natürlich nicht davon ausgegangen werden, dass jede:r im Publikum seine Bücher gelesen hat.
Digitaler Zeitdruck
Als nach der Pause die Debatte fürs Publikum geöffnet wird, besteht reger Diskussionsbedarf. Es gibt so viele Wortmeldungen, dass gar nicht alle in der verbleibenden Dreiviertelstunde drankommen können. Grundsätzliche Themen wie Freiheit, Menschenrechte und Demokratie werden mit Fragen zur aktuellen weltpolitischen Lage verbunden. So wird der Krieg in der Ukraine, die Demonstrationen im Iran, die Menschrechtsverletzungen Chinas gegen Uiguren und ein Boykott der WM in Katar diskutiert. Auch Christian Lindners Twitter-Verhalten nach dem Attentat am Breitscheidplatz wird kritisiert. Ein 22-Jähriger will generell über Twitter, Elon Musk und die Gefahren der Digitalisierung für die Gesellschaft sprechen. Baum wirft daraufhin die These ein, Donald Trump wäre ohne soziale Medien nie zum Präsidenten gewählt worden. Bei digitaler Kommunikation sei der Zeitdruck durch die Erwartung schneller Reaktionen häufig zu groß. Das verhindere besonnene Überlegungen, die bei komplexen Themen doch so notwendig seien. Außerdem kritisiert Baum mangelnden Datenschutz im Internet: „Wir sind zu gläsernen Menschen geworden und das alles unter der Aufsicht großer Konzerne“. Eine andere Person aus dem Publikum hält dagegen, will auch die andere Seite sehen und die Möglichkeiten zur Organisation für aktivistische Gruppierungen durch digitale Kommunikation hervorheben, wozu auf die Proteste im Iran verwiesen wird.
Blick auf andere Länder
Ganz am Ende ergreift doch noch jemand aus dem Publikum Partei für die Letzte Generation. Aktionen wie das Festkleben auf dem Rollfeld des Flughafens Berlin Brandenburg scheinen für die Aktivist:innen der letzte Weg, sich endlich Gehör zu verschaffen, nachdem die Klimakrise so lange von führenden Politiker:innen ignoriert wurde. Erneut stellt sich die Frage: Warum ist die Perspektive der Aktivist:innen, die ihre Leben mit Autobahnblockaden oder Hungerstreiks zum Teil aufs Spiel setzen, nicht vertreten? Die Podiumsgäste bleiben bei ihrer Haltung und werfen stattdessen einen Blick auf andere Länder wie den Iran, wobei hier mit anderen Maßstäben gemessen und den Aktivistinnen, die ebenfalls mit ihren Protesten häufig ihr Leben aufs Spiel setzen, großer Respekt ausgesprochen wird. Der entscheidende Unterschied liege darin, dass Deutschland ein Rechtsstaat sei, sodass juristische und demokratische Wege offen stünden.
Auch wenn der Name #streitkultur für diesen Sonntagnachmittag im Urania Theater irreführend scheint, da in den meisten Punkten Konsens herrscht und ein mögliches Aufeinanderprallen von Meinungen bereits durch die Auswahl der Gäste vermieden wurde, werden vielfältige relevante Themen der Gegenwart angesprochen. Eine konkretere Ausgangsfrage mit weniger Fokussierung auf den Star der Veranstaltung hätte aber möglicherweise eine tiefgründigere Debatte entstehen lassen können. Gleichzeitig verdeutlicht die Tatsache, dass so viele unterschiedliche Themenfelder tangiert werden, wie aufgewühlt die aktuelle weltpolitische Lage und die Gemüter sind.
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